5.Kapitel: Capricorn

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Alea schloss die Tür hinter Joline und ihr und trat auf den nassen Asphalt hinaus. Der Regen hatte nachgelassen und wurde zu einem feinen Nieselregen. Es war es war sehr früh am Morgen, nur eine Straßenlaterne beleuchtete den Gehweg vor ihnen.„Nur damit das klar ist: Ich laufe heute nur mit dir, weil Mum und Dad wollen, dass ich dir den Schulweg zeige", erklärte Joline so genervt, als wäre Alea ein Kleinkind, auf das sie aufpassen müsste. Alea seufzte gequält. Sie würde liebend gerne auf Jolines Hilfe verzichten. Alea drehte sich zu ihr um. Joline war eine wahre Schönheit mit ihrem langen gelockten braunen Haar. Dazu hatte sie dunkle blaue Augen. Ihre Eltern vergötterten sie und sie bekam alles was sie wollte. Alea war ein wenig neidisch, weil Joline bei ihrer richtigen Familie aufwachsen durfte. Aber dann dachte sie an alles, was Joline nicht hatte. Wahre Freunde. „Nur damit das klar ist: Ich habe jedenfalls nicht darum gebeten, dass du mich zur Schule begleitest!", fauchte Alea zurück, doch plötzlich bewegte sich etwas in ihrem Augenwinkel. Schlagartig fuhr sie herum.
Da war nichts außer einer Katze mit sehr ungepflegten Fell, die von einer kleinen Gartenmauer sprang. Ihre Augen leuchteten kurz auf, dann verschwanden sie in der Dunkelheit. In der Ferne bellte ein Hund. „Was ist denn?" fragte Joline entnervt. Verärgert riss Alea den Blick von der Mauer los. Schweigend liefen sie neben einander her. Alea merkte,dass sie Joline beobachtete. „Kann es sein, dass wir uns schon einmal gesehen haben?", fragte sie, „ Ich meine bevor ich dich kennengelernt habe", antwortete sie auf Aleas fragenden Blick. Alea schüttelte den Kopf. „Wann soll das denn gewesen sein?"
Joline dachte kurz nach. „Diesen Sommer. Ich war in den Sommerferien in Italien. Das Mädchen sah haargenau so aus wie du." Alea runzelte die Stirn. Sie war mit der Alpha Cru schon fast überall in Europa gewesen, aber Italien war ihr fremd. „Das muss wohl meine lang verschollene Zwillingsschwester sein", antwortete sie spottend.
Alea wusste ja nicht wie recht sie hatte.

Da war er wieder. Diesmal wusste Alea, dass sie es sich nicht einbildete. Irgendjemand verfolgte sie. „Lass uns etwas schneller gehen sonst kommen wir noch zu spät", sagte sie nervös zu Joline. „Nur keine Eile",sagte Joline gelassen und zog ihr Handy aus der Tasche, „es ist erst halb 7." Sie schien Aleas Angst nicht zu bemerken und zog Alea am Ärmel ihrer Jacke:„ Jetzt komm schon oder willst du hier Wurzeln schlagen?!" Doch im selben Moment erschien plötzlich ein Mann vor ihnen auf dem Gehweg. Joline trat zur Seite um ihn durchzulassen. Der Mann blickte erst zu Alea. Dann blieben seine Augen an Joline heften. „Schattfa", murmelte der Mann. Dann, so schnell, dass Alea es überhaupt nicht bemerkte, war er mit einem Satz bei Joline und drückte ihr ein kleines Kissen ins Gesicht. Zuerst schaute sie ihn geschockt an, dann verschleierte sich ihr Gesichtsausdruck und sie fiel ihm in den Arm. Da tauchten zwei weitere Gestalten auf und hoben Joline hoch. Das alles geschah so leise, dass keiner der Nachbarn in den Reihenhäusern es bemerkte. Alea wollte schreien, doch kein Laut kam aus ihrer Kehle. Schnell näherten sich die beiden gestalten. Plötzlich löste sich ihre Schockstarre. Ihr Geist war plötzlich klar, ihr Verstand messerscharf und ihre Angst wie weggeblasen. Mit einem gezielten Tritt ins Schienbein stürzte der erste Gegner zu Boden. Woher hatte sie so gut kämpfen gelernt? Doch bevor sie einen nächsten Angriff starten konnte wurde auch ihr das Kissen ins Gesicht gedrückt. Ein süßlicher Geruch stieg in ihre Nase und ihre Augenlieder wurden immer schwerer. Bevor sie in einen tiefen Schlaf sank, sah sie das Gesicht ihres Angreifers vor sich. Auf der Stirn war ein merkwürdiges Zeichen zu sehen, das im orangenen Schein der Straßenlaterne silbrig glitzerte. Dann fiel sie in einen tiefen Schlaf.

Alea blinzelte verschlafen. Alles war dunkel. „Autsch!!" Sie war beim Versuch sich aufzurichten gegen eine Holzwand gestoßen. Mit pochendem Schädel ließ sie sich stöhnend auf ihr weiches Kissen zurücksinken. Bildete sie sich das nur ein, oder hörte sie tatsächlich Bens Stimme? Er war sehr laut und schien mit jemandem zu streiten. Vorsichtig, um sich nicht noch einmal anzustoßen, schlüpfte sie aus dem Hochbett. Mit tastenden Finger suchte sie den Lichtschalter. Das Licht erleuchtete das kleine Zimmer und Alea japste erstaunt. Sie war auf der Crucis! Schnell zog sie sich an und rannte ins Wohnzimmer. Niemand war da. Sie folgte Bens Stimme und fand sich auf dem Deck wieder. Fassungslos ließ sie ihren Blick schweifen. Überall nur Meer. „Alea!" Schnell drehte sie sich um. Dort stand tatsächlich Ben! Und neben ihm stand............!
Blitzartig fielen ihr wieder die Ereignisse vom Morgen ein. Ein erstickter Aufschrei entfuhr ihr. Geschockt sah sie Ben an. „Das..das kann doch nicht dein Ernst sein! Er hat mich heute morgen...“„Du meinst gestern morgen", verbesserte Ben sie ruhig. „Er ist ein Verbrecher!" „Alea, lass uns in Ruhe reden!" Der Mann meldete sich zu Wort. Woher kannte er überhaupt ihren Namen? Böse blickte sie die beiden an. Ben warf ihr einen flehenden Blick zu, sie gab wiederstrebend nach und folgte Ben, allerdings mit einigem Abstand zu dem Mann. Als sie das Wohnzimmer betraten, stürzte sich etwas auf sie und rotes, verwuscheltes Haar raubte ihr die Sicht. Glücklich drückte sie den strahlenden Sammy an sich. Als sie sich von ihm löste, grinste er sie an. „Du hast ganz schön viel Kraft, Schneewittchen! Als wir dich gestern morgen entführt haben, hast du  unseren Capricorn total niedergeschlagen!" Das Gesicht des Mannes verfinsterte sich. „Ich heiße Cassaras!", murmelte er kaum hörbar. „Aber das ist natürlich alles Lennox zu verdanken", erklärte er ernst, „unser Bestkrieger und Meister des Vergessen!", fügte er auf Aleas fragenden Blick hinzu. „Ach jetzt kommt schon und gebt es ihr einfach!", knurrte Cassaras ungehalten.
„Mir was geben?"
Statt einer Antwort öffnete Ben eine kleine Flasche, die auf der Kommode neben dem Sofa lag. „Vertraust du mir?", fragte er sie ernst. Alea hätte zwar gerne gewusst was in der Flasche war, aber sie kannte Ben. Er würde ihr nichts antun. Deswegen nahm sie ihm die Flasche mit zittrigen  Händen ab und führte sie zum Mund. Alea nahm ihren ganzen Mut zusammen und schluckte ein paar Tropfen. Und auf einmal erinnerte sie sich.

An alles.

Eine Welle aus Erinnerungen überrollte sie. Alea rang nach Luft.
Nein. Nein. Nein.
Lennox.
Alea sank auf den Boden und krümmte sich vor Schmerz.

Lennox weinte. Aber es half nichts. Es war so weit. Mit Tränen in den Augen trat er vor Alea. „Ich liebe dich", flüsterte sie. „Ich liebe dich auch", flüsterte er verzweifelt zurück. Und dann sagte er: „Leb wohl."
Die Silberfadenvision wurde Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit war fürchterlicher, als Alea sie es sich jemals hätte ausmalen können.

Aus der Ferne hörte sie gedämpfte Stimmen, Stimmen die auf sie einredeten und ihren Namen riefen.  Sie schlug die Augen auf und sah in Bens besorgtes Gesicht. Sammy verschwand kurz und tauchte mit einem Teller Kekse auf. „Die habe ich von dir. Ich habe sie noch nicht aufgegessen, weil ich so traurig war." Alea schaute gerührt auf, und, obwohl ihr der Schmerz die Luft nahm, schenkte sie ihm ein Lächeln.
„Könnte ich mal kurz alleine sein, später können wir über alles reden."
Sofort gingen Ben und Sammy an Deck. Cassaras warf ihr noch einen Blick zu, den Alea nicht zu deuten vermochte, dann folgte er den Brüdern.
Alea ließ sich aufs Sofa fallen. Stille umgab sie wie Wasser.
Aus der Ferne hörte sie plötzlich den Gesang von Walen. Schmerzlich wurde sie sich bewusst, dass sie nicht mehr darauf reagierte. Sie betrachtete ihre Hände. Sie waren glatt und ohne Besonderheit. Früher, bevor sie erfahren hatte, dass sie ein Meermädchen war, hatte sie sich immer solche Hände gewünscht. Landgängerhände. Gedankenverloren nahm sie sich einen Keks.
„Noch ist nicht alles verloren."
Erschrocken wirbelte Alea herum.
Vor ihr stand Cassaras. „Ich wollte dich nicht stören."
Alea musterte ihn. Sie hatte noch nie gewusst, auf welcher Seite der geheimnissvolle Nixenprinz stand. Nur eines wusste sie: Er wollte den Umhang seiner Mutter. Alea hatte ihm damals, als Cassaras die Alpha Cru vor Doktor Orion gerettet hatte, den Umhang seiner Mutter versprochen. Mit ihm konnte man in die Zukunft schauen. Die Silberfäden von Sammys Fusselsammlumg kamen von dem geheimnissvollen Umhang. Es gab da nur einen Haken: Alea hatte den Umhang noch gar nicht. Nun folgte der Nixenprinz ihr bis sie den Umhang fand. Denn der Umhang war für sie, Alea, bestimmt.
Cassaras räusperte sich.
„Das Mittel wirkt nur für 2 Tage. Du musst es immer wieder einnehmen."
Alea nickte. Sie hatte gewusst, dass es nicht so einfach war, Erinnerungen zurückzuholen. Dennoch hatte sie Angst davor, auf einen Schlag alles wieder zu vergessen. Plötzlich fiel ihr etwas ein: „Aber wenn Ben und Sammy auch alle zwei Tage dieses Gebräu trinken müssen, reicht das niemals für uns alle!"
„Für die beiden gilt nicht das gleiche. Du allerdings musstest vergessen ,was du gewesen bist." Alea wollte ihm noch mehr Fragen stellen aber plötzlich hörte sie einen erstickte Schrei aus einer der Kajüte. Es hörte sich verdächtig nach Joline an. Alea seufzte. „Wir mussten deine Freundin mitnehmen, weil sie zu viel weiß", sagte Cassaras mürrisch. Joline stürzte aus der Kajüte. „Man hat uns entführt! Hilfe!!"  Sammy und Ben kamen, angelockt von den Schreien herein. „Das sind meine Freunde, Joline", erklärte Alea. Joline sah sie herablassend an. „Du hast Freunde?" Alea ignorierte die fiese Bemerkung. „Ich will zu Mum und Daddy!", schluchzte Joline. „Wir werden dir später alle erklären", redete Alea beruhigend auf sie ein. Obwohl sie Joline nicht besonders mochte, empfand sie in diesem Moment Mitleid mit ihr. „Erklär Alea mal den Plan, Cassaras", sagte Ben ungeduldig.
„Wir werden nach Italien fahren und in Venedig einen alten Bekannten von mir treffen. Er kann uns sicherlich in vielerlei Dingen helfen", erklärte Cassaras. Alea fiel plötzlich wieder eine der Silberfadenvisionen ein. Ben und Sammy, die in einer Gondel saßen und sangen. Das konnte nur etwas Gutes bedeuten. Alea ballte die Fäuste. Sie würde nicht aufgeben, bis Orion besiegt war und Lennox gerettet.
„Ich mag Venedig",sagte Sammy verschmitzt, „und im September ist es dort am schönsten.

Weit entfernt von der Crucis, um genau zu sein in der Villa Kongur, konnte Orion nicht fassen was er auf dem Bildschirm seines Laptops sah:
Die Crucis fuhr in Richtung Italien. Und zwar mit Alea.

Wurde ein bisschen lang, aber das stört euch hoffentlich nicht 😊












Alea Aquarius/ Fluss des VergessensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt