Kapitel 1

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Der beißende Geruch vom Alkohol des Vorabends lag in der Luft, als Lennox die Wohnung betrat.

Es war keine kahle Wohnung, aber sie wirkte etwas kühl, als fehlte das gewisse Etwas, das optisch für eine familiäre Atmosphäre sorgte.

Kein Laut war zu hören, keiner, bis auf ein dumpfes Schnarchen aus dem Wohnzimmer.
Es war das Zimmer, das Gefahr bedeutete, das wusste Lennox längst, und deshalb schlich er einfach an der geöffneten Tür vorbei ins Nebenzimmer - die Küche.

Ausgehungert wie ein Tiger machte er sich auf die Suche nach etwas, das als Mittagessen herhalten könnte, fand aber lediglich einen Karton Milch, zwei matschige Bananen und eine suspekt aussehende, zerknitterte Packung für Fertiglasagne, die vor einer Woche abgelaufen war.

„Junge!" Lennox wirbelte herum, innerhalb eines Sekundenbruchteils war seine Bereitschaft zu allem aktiviert, alle Sinne waren sofort hellwach.

„Haben wir was zu essen?", fragte er seinen Vater hoffnungsvoll und versuchte, den schweren Geruch von Alkohol und die Wolke aus Zigarettengestank zu ignorieren, die den unrasierten Mann mit den geröteten Augen umgaben.

„Siehst du hier irgendwas?", brummte der Mann und Lennox schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich bin trotzdem am Verhungern und wir kommen nicht an die nötige Versorgung, wenn du den ganzen Tag hier herumliegst und nichts tust, außer schlafen, rauchen und trinken", bemerkte er trocken.

Der bereits erwartete Schlag folgte, und Lennox, dessen Reaktionsfähigkeit schon immer extrem gut gewesen war, hob blitzschnell die eigene Hand und blockte die Ohrfeige.

Ein knurrender Laut drang aus der Kehle seines Vaters, der ihn mit verengten Augen fixierte. „Die Schule hat angerufen."
„Schön", antwortete Lennox und schnipste den Deckel des Milchkartons weg, um sich ein Glas einzugießen.
„Sie sagen, du warst schon wieder nicht dort", knurrte der Mann.

Lennox schnaubte verächtlich.

„Es interessiert dich doch sowieso einen Dreck, ob ich zur Schule gehe", gab er kalt zurück.

„Nicht so vorlaut", zischte sein Vater und die Gesichter der beiden waren mittlerweile so nah aneinander, dass sich die Nasenspitzen beinahe berührten.

Lennox wandte den Blick zuerst ab, leerte sein Glas und pfefferte den Milchkarton zurück in den Kühlschrank, in dem sich sonst nur drei Flaschen Bier sowie ein rohes Ei und ein fleckiges Einmachglas mit gelblichem Inhalt - der wohl so etwas wie Marmelade sein sollte - befanden.

„Tisch abwischen. Küchenanrichte auch. Und das Fenster im Bad sieht schrecklich aus. Ich schaue in einer halben Stunde", warnte der Mann, zog mit einem letzten bedrohlichen Blick ab und ließ sich im Wohnzimmer wieder auf die Couch sinken.

Lennox blieb einen Moment lang regungslos stehen und bewegte sich keinen Millimeter.
Dann erwachte er aus seiner Trance und griff nach dem grünen Putzlappen in der Spüle.

SchattenjungeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt