Prolog

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Sein Geist wanderte durch die unzähligen Sonnenstrahlen und Tore, immer weiter fort zu einem kleinen, weißen Punkt. Es war ein befremdliches Gefühl, fand er, seinen Körper nicht mehr zu spüren und wie ein kleiner Staubpartikel durch die Luft zu wirbeln. Sein Ziel? Ungewiss. Er wusste nicht mehr, warum er seinen Körper vermisste, wenn er denn jemals einen Körper besessen hatte. Er spürte nur die Schwere eines schlimmen Verlustes und dennoch war dort eine Genugtuung, als hätte er zum ersten Mal in seinem Leben etwas richtig gemacht. Nur was war das? Und von welchem Leben meinte er, diese Gefühl wahrgenommen zu haben?

Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war das Gesicht einer unglaublich schönen Frau. Der schönsten Frau, die er je gesehen hatte. Ihr Gesicht hatte die schöne weibliche Herzform und ihre Haare waren aus puren goldenen Strähnen, die im Licht glänzten wie die Sonne selbst. Und ihre Augen! Die atemberaubendsten, die er je gesehen hatte; sie sahen aus wie pure Diamanten und zugleich wie die Tiefen der Ozeane. Diese Frau war der Inbegriff der Sinnlichkeit gewesen. Wie sich ihre wohlgeformten, roten Lippen seinen entgegenstreckten und dann kurz vor den Seinen inne gehalten hatten. Wie etwas aus ihm herausgesogen wurde, das er ihr nur allzu bereitwillig geben wollte. Ja, dieser Frau würde er alles geben. Alles und noch mehr. Doch sowie er im selben Moment an dieses bezaubernde Geschöpf dachte, spürte er etwas Irritierendes tief in sich, etwas, das ihm sagte, er hätte etwas Wichtiges vergessen. Etwas, für das er tatsächlich gestorben war, für das er wieder sterben würde.

Auf einmal bekamen die goldenen Strähnen der Schönheit einen dunklen, beinahe schwarzen Ansatz und ihre diamantenen Augen verfärbten sich in braune Teddybäraugen. Ein Lachen durchfuhr seine körperlose, schimmernde Gestalt. Wie oft hatten ihn diese braunen Augen böse angesehen, ja schon beinahe tadelnd? Und wie hatte er diesen Ausdruck in ihnen geliebt! Manchmal, erinnerte er sich wieder, hatte er diesen Blick ganz bewusst hervorgerufen, einfach nur, weil er ihn so sehr liebte, von dem ersten Augenblick an, als er ihn an ihr gesehen hatte. Nur wer war sie? Er wollte den Gedanken festhalten, danach greifen, aber er entglitt ihm und die bezaubernde Frau bekam wieder ihre goldene Mähne. Und die braunen Augen wichen den diamantenen. Wieder war er ganz eingenommen von ihrer Ausstrahlung und Schönheit. Sie war die Einzige für ihn. Seine körperlose Form kam ihm schon beinahe natürlich vor und auch der weiße Punkt bereitete ihm keine Bedenken mehr. Er war sein Ziel! Seine Erlösung. Um ihn herum schwebten noch mehrere farbige Gestalten dem Himmel empor. Es war ein Farbenspiel, dass seinesgleichen suchte. Er hatte diesen Anblick schon einmal gesehen, erinnerte er sich. Bei jedem Sonnenauf - und untergang. Der ganze Himmel erstrahlte in den schönsten Violett -, Blau - und Rosatönen, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Doch noch nie waren ihm Gesichter in den Farben aufgefallen. Alle bunten Farben strebten mit dem Gesicht zu dem weißen Punkt entgegen. Ihre Züge waren weich, lebendig und zugleich entspannt. So stellte er sich die Menschen vor, die einen Wellnesstag hinter sich hatten. Ob er selber wohl auch so dümmlich grinste? Zumindest hatten er dieselbe innere Zufriedenheit, das Gefühl, schwerelos durch die Lüfte zu gleiten. Mit jedem Meter kam er dem weißen Punkt immer näher. Und je näher er ihm kam, desto zufriedener und entspannter wurde er. Das Mädchen mit den braunen Augen und den dunklen Haaren war vergessen.

Wie sich herausstellte, war der weiße Punkt gar kein weißer Punkt, sondern eine Art weißer Tisch im Freien. Es gab mehrere Tische, alle knapp fünf Meter voneinander entfernt und sie standen ebenso alle auf ihrer eigenen kleinen Insel. Von Weitem hatten die ganzen Tische gebündelt nur ausgesehen wie ein weißer Fleck. Am anderen Tischende saß ein kleines, blondes Mädchen, das geschäftig in einer weißen Akte blätterte. Jedes Mal, wenn sie eine Seite umschlug, zog sich ihre kleine Stupsnase leicht kraus und die Sommersprossen auf ihr fingen an zu tanzen. Er selbst hatte wieder zu seiner körperlichen Form gewechselt und hockte lässig auf dem weißen, hölzernen Stuhl. War der von Ikea? Möglich war's. Die Kleine schlug ihre Akte zu und schaute ihn mit ihren blauen Augen unverwandt an. Dann atmete sie schwer aus, als hätte sie das kommende Gespräch schon zig mal hinter sich gebracht.

"Sie sind also Herr Nicklas Lithgow? Siebzehn Jahre alt?", fragte sie, während sie erneut durch die Unterlagen blätterte. War er das? Naja, sie hatte die Unterlagen und ihm kam der Name Nicklas sehr bekannt vor. Also nickte er bedächtig, was sie natürlich nicht sehen konnte, da sie immer noch in die Akte schaute. Als er nichts zu erwidern schien, hob sie den Blick von den vielen Zetteln. Erneut nickte er. Sie war noch so unglaublich jung, sicher nicht älter als vier Jahre. Was machte eine Vierjährige im Himmel auf einer Insel an einem weißen Tisch? "Unterlagen durchsehen und dumme Fragen beantworten.", entgegnete sie.

Verblüfft öffnete er den Mund. Sie hatte seine Gedanken gelesen und ihm daraufhin seine Frage beantwortet. Warum ihn das so verwunderte, wusste er nicht mehr, nur glaubte er noch zu wissen, dass etwas Dergleichen nicht natürlich war, das er sehr erschrocken und empört sein sollte, doch es war ihm schlagartig egal. Ja, er nahm es einfach hin, wie man es hinnahm, wenn einem der Kugelschreiber auf den Boden viel. Eben etwas total Belangloses, was ständig und häufig passierte. Also nickte er erneut.

"Tja, Herr Lithgow, wie ich sehe, stehen ihre Chancen nicht gerade sehr gut.", sie pustete sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. "Hier steht, dass sie jahrelang Teil einer sehr rückständigen, radikalen Gruppe waren. Viele Menschenleben wurden geopfert, und ich hatte deswegen weniger Urlaub." Erneut pustete sie sich dieselbe Strähne aus dem Gesicht. Jedoch wirkte sie jetzt ein kleinwenig erbost. Ob sie um ihren Urlaub trauerte? fragte er sich. Und in wiefern er diesen wohl beeinflusst hatte? "Ihre ersten Jahre sprechen auf jeden Fall nicht für sie. Sieht ganz nach einem Wackelkandidaten aus.", sagte sie und blätterte weiter in seiner Akte. "Immerhin sind sie durch den Einfluss dieses sonderbaren Mädchens aus der Gruppe ausgetreten." Erneutes Rascheln, als sie einige weitere Blätter überflog.

"Oh.", sagte sie verblüfft. Ihre blauen Augen weiteten sich und schimmerten ein kleines bisschen gläsern. Erstaunt strich sie mit ihren Kinderhänden über die Schrift auf dem weißen Blatt Papier. "Das war sehr romantisch von ihnen.", schniefte sie und kleine Tränen kullerten aus ihren großen Kinderaugen auf die weiße Akte. "Wirklich, sehr romantisch. Nicht viele Menschen sterben tatsächlich für einen anderen. Sagen tun sie es oft, aber wirklich für jemanden sterben machen die Wenigsten. Wir haben sehr selten solche romantischen Morde." Sie fuhr sich mit ihrem Handrücken über die laufende Nase, wie es alle Kinder im ihren Alter tun würden. Eine sehr seltsame Geste für eine Vierjährige, die ansonsten wirkte wie eine bessere Sprechstundenhilfe.

"Das verbessert ihre Chancen natürlich, jedoch macht es ihre Vergangenheit nicht ungeschehen, weshalb ich sie als einen Wackelkandidaten eintragen muss. Aber sie haben auf jeden Fall mein Wohlwollen, junger Mann.", sagte sie und malte mit ihrem bloßen Finger ein aus Licht bestehenden Hacken in ein schwarz umrahmtes Kästchen. Dann schlug sie die Akte wieder zu. Aus der weißen Akte ragten silbern schimmernde, engelähnliche Flügel empor, die ihre Schwingen streckten und die Akte davon trugen. Staunend sah er ihr nach. Noch im selben Moment, während die Akte aus seinem Sichtfeld verschwand, dematerialisierte sich auch sein Körper wieder in seine durchschimmernde, farbige Gestalt und er schwebte wieder wie ein Staubpartikel durch die Luft, an dem kleinen Mädchen, an der Insel, vorbei.

ROT - Verborgene Geheimnisse -LAUFEND-Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt