Kapitel 3

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Die Innenstadt von Main war doppelt so groß und weitläufiger, verrückter und pompöser als ich sie mir vorgestellt hatte. Wenn mich noch das Reisebüro sowie das Verkaufsgeschäft für Begleiter aus den Socken gehauen hatte, so war ich jetzt maßlos überwältigt! Was alles in einem Wald Platz fand! Kleine und größere verschlungene Wege verliehen der Innenstadt von Main etwas Magisches, Interessantes. Es gab Straßenkünstler, die mit Hilfe von Telekinese (einem Muster, dessen zarte schwarze Linien das Abbild eines sich drehenden platonischen Metathronwürfels zeigten) Edelsteine durch die Luft gleiten, sich überkreuzen und zu Staub zerfallen ließen.

Einige Meter von Ihnen entfernt, am unteren Ende der Straße, hatten ein paar Trickbetrüger (wie mir Alice verriet) ihre Stände aufgebaut und nahmen ahnungslosen Touristen, natürlich alles Gezeichnete, ihr Urlaubsgeld ab. "Morgen wird es dir gefallen. Da haben wir unser jährliches Sommerfest.", sagte Alice, als ihr Blick dem meinen gefolgt war und ebenfalls den Straßenkünstlern nachsah. "Ein Sommerfest? Sind das nicht ein bisschen viele Feierlichkeiten hintereinander?" "Ach was. Ein bisschen Ablenkung tut uns allen ganz gut und man kann nie zu viel feiern!" Ihr roter Lockenkopf wippte im Takt ihrer Schritte und ihre bernsteinfarbene Augen blitzten amüsiert.

"Das werden aufregende zwei Tage. Ich kann es kaum erwarten, dich allen vorzustellen. Bis jetzt hast du ja nur einige wenige des ältesten Rates kennengelernt. Warte erst einmal ab, bis ich dir..." Sie stockte und zeigte mit ihrem ausgestreckten Finger auf eine Boutique, in dessen Schaufenster die großen roten Buchstaben SALE prangten. Vor der Ladentür tummelten und drängten sich eine Vielzahl von jungen Mädchen und Frauen in Alice' und meinem Alter. Sie drückten sich gegenseitig immer wieder gegen das Glas der Eingangstür, bis eine hochgewachsene, elegant gekleidete ältere Frau die Tür aufschloss und die Mädchen wie Dominosteine ins Innere des Ladens purzelten.

Alice kreischte verzückt. "Die haben Ausverkauf bei Tenea's!" Noch ehe ich mich versah, schloss sich ihre Hand um meinen Arm und sie stürmte in die sich ankeifende Frauenmenge, mich hinter sich her zerrend.
Anderthalb Stunden später und mit blauen flecken übersät, verließ Alice zufrieden grinsend die Boutique. In beiden Hände hielte sie bis zum Anschlag gefüllte Papptüten, für dessen Inhalt mich eine der vielen Ladys sogar gebissen hatte! Gebissen! Kurz nachdem ich das Tauziehen mit ihrer Freundin um ein weißes Sommerkleid gewonnen hatte.

Diese Frauen waren wie ein Rudel wild gewordener Wölfe. Sie rissen und zerrten an einem, als ginge es um das letzte Stück Fleisch vor dem alles vernichtenden Winter! Selbst Wölfe hatten untereinander mehr Empathie als die Damen, wenn es um eine Hose oder ein T-Shirt von Tenea's ging. "Bitte sag mir, das wir das nie wieder machen müssen.", seufzte ich entsetzt, als wir in sicherer Entfernung der anderen raufsüchtigen Frauen waren, denen ich auch jetzt noch einen Überfall auf uns zutraute. Alice lachte. "Aber es hat sich gelohnt.", fand sie mit einem kurzen Seitenblick auf die beachtlich gefüllten Tüten.

"Jetzt steht einem rauschendem Geburtstagsfest nichts mehr im Wege. Wir werden fantastisch aussehen! Noch schnell Dekoration einkaufen, einen Cateringservice auftreiben und in meinem Garten das alte Partyzelt von Mr. Seehlas aufbauen." "Wer ist Mr. Seehlas eigentlich? Lucas hat ihn auch schon ein paar Mal in Verbindung des Rates erwähnt." "Hm.", machte Alice und sah mir in die Augen. "Mr. Seehlas ist sowas wie der Bürgermeister unseres bescheidenen Städtchens. Er hat Einblick in die Verwaltungsunterlagen, kann Vorsitzende des Rates ihres Amtes entheben und hat natürlich die oberste Gewalt über unser Militär und dessen Operationen." Als Alice sah, wie sich meine Augen immer weiter und weiter aufrissen, entfuhr ihr ein undamenhaftes Glucksen.

"So, wie du schaust, reimst du dir gerade das Schlimmste zusammen. Aber Mr. Seehlas ist eine Seele von Mensch. Außerdem geht er schon auf die sechzig zu und ist ein freundlich gesinnter Mann. Lucas sieht ihn mehr als Großvater denn als Vorgesetzten.", sagte sie zwinkernd. "So und jetzt zurück zu unseren Einkäufen.", bestimmte sie und arbeitete, mit mir im Schlepptau, ihre Einkaufsliste ab.

ROT - Verborgene Geheimnisse -LAUFEND-Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt