Und so war es. Als ich mich am nächsten Morgen möglichst leise aus dem Hofe schlich und mir dabei einen Bogen und Christus nahm, konnte ich zwar eine dunkle Gestalt hinter mir feststellen, dachte mir aber nichts weiter dabei. Unter meiner Rüstung war ich gut versteckt, die Gestalt konnte also kaum erkennen, wer ich war. Ausserdem versuchte ich, mich trotz der Dunkelheit zu beeilen, denn wenn die Sonne aufgehen würde, hätte ich nicht mehr lange Zeit, um wegzubleiben. Obwohl auch andere Schüler die Schule ab und zu verliessen, kam es selten vor, dass der gleiche Schüler an zwei Tagen hintereinander davon schlich, und wenn es einmal der Fall war, dann wurde unerträglich viel gemunkelt. Das wollte ich natürlich verhindern.
Ich stieg also auf und trieb Christus an, in die Richtung, in der ich am Vortag ohne Vorahnung geritten war. Ich konnte den Sonnenaufgang betrachten, wie sich die Sonne jeden Moment ein bisschen höher schob und sich die Farben der endlosen Weite gemächlich veränderten. Der stahlblaue Himmel erschien langsam, und das Rot verschwand immer mehr hinter dem Horizont. Der Tag brach an. Am vorigen Tag hatte ich mir den Weg unbewusst gut eingeprägt. Das machte ich ständig, denn ich wusste, wie wichtig das manchmal sein konnte.
Ich ritt auf die Anhöhe zu und folgte dort dem Pfad nach oben. Christus erwies sich wirklich als ein starker und geduldiger Begleiter. Nicht nur gefiel mir sein schwarzes Fell sehr, sondern beeindruckte mich auch seine Charakterstärke, die ich auch ohne Worte in ihm sehen konnte. Und das bei einem Gaul. Manchmal erinnerte mich Christus, ganz im Gegensatz zu allen anderen Pferden, an einen ganz bestimmten Helden. Doch konnte ich nie genau sagen an welchen. Vielleicht war er mir auch einfach so wichtig geworden, dass ich mir das alles nur einbildete.
Denn er war das einzige lebendige Wesen, das mich an mein Zuhause erinnerte.
Als wir angekommen waren, stand ich vor ihn, streichelte und tätschelte seinen Hals und sah mir seinen Kopf an. Christus‘ Augen waren durch die dichten Wimpern gut geschützt, das wusste ich. Aber auch sonst fielen mir nun die kleinsten Details auf. Es kam mir fast so vor, als hätte mir Patroclos' Lektion mehr gebracht, als ich gedacht hatte. Nicht nur fürs Kämpfen, sondern auch fürs Leben überhaupt. Christus' Nüstern waren riesig, und sein Maul sabberte, aber ansonsten war er wunderschön. Die gewellte Mähne verlieh diesem Pferd einen unglaublich majestätischen Ausdruck. Ich wollte gerade seinen Kopf in meine Hände nehmen, da schwenkte Christus ihn vor, sodass er mich natürlich völlig unerwartet anstiess. Ich taumelte rückwärts und fiel schliesslich zu Boden. Ich sass also da wie ein gerupftes Huhn und rückte den Helm zurecht, da fing Christus an zu wiehern und schnauben, als würde er sich tatsächlich über mich lustig machen.
Erst war ich etwas verärgert, aber dann musste ich auch grinsen, war doch die Situation wirklich zu komisch. Plötzlich fing auch jemand hinter mir an, sich über uns zu amüsieren. Natürlich wusste ich schon bevor ich mich umdrehte, dass es Patroclos war. Ich sass also auf und gab Christus einen Klaps auf die Nase. Nicht zu auffällig, versteht sich von selbst. Denn Zärtlichkeiten von Reiter zu Pferd waren nicht ganz üblich und ich wollte mich auf gar keinen Fall verraten.
Denn, wie mir gestern erst beim Training im Hofe eingefallen war, Patroclos konnte ja gar nicht ahnen, dass sich unter meiner Rüstung in Wirklichkeit eine Frau versteckte. Allerdings hatte ich bis jetzt noch nicht ausmachen könne, ob mir das gefiel oder nicht. Dennoch war es ein Schutz, den ich gebrauchen konnte.
Ich drehte mich also um, und da stand er. Im gleichen Gewand wie gestern. Auch wenn ich gehofft hatte, dass er heute wieder kommen würde, hätte ich es doch nie zu wünschen gewagt. Aber anscheinend schien auch Patroclos unsere Abmachung gespürt zu haben. Ich musste unweigerlich daran denken, wie er mir gestern so warmherzig geholfen hatte und gleichzeitig bewunderte ich den Glanz in seinen Augen, welche die ersten Sonnenstrahlen des Tages spiegelten.
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Die letzte Kriegerin
Historical Fiction"Patroclos mag mir in vielem ein Rätsel sein, aber eines weiss ich: Wenn der Krieg ruft, wird er seine Schreie hören und ihn finden. Und ich werde mit ihm gehen." Eine junge Kriegerin, versteckt in einer Männerrüstung. Ein darunter pochendes Herz, w...