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Die Beamten sprechen mit Fred und Andrea. Eine Polizistin setzt sich zu mir. "Du bist also die kleine Lea. Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt."
Wieso spricht die Frau mit mir? Wir kennen uns doch gar nicht. Und sonst spricht ja auch keiner mit mir.
"Wie geht es dir denn?"
Ich schaue sie verwundert an, sage aber nichts. Wieso fragt sie mich wie es mir geht? Sonst fragt mich das doch auch keiner. Es ist doch sonst auch immer allen egal. Warum sollte gerade sie das interessieren. Sie kennt mich ja nicht einmal.
"Magst du nicht mit mir sprechen?"
Ich weiß es nicht. Vielleicht bist du ja auch ganz lieb, so wie Andrea. Andrea fragt mich ja auch immer wie es mir geht. Sie hat mich ja auch lieb. Aber wenn Andrea mich fragt wie es mir geht, sage ich ihr immer, dass alles gut ist. Aber ist denn alles gut? Ich weiß nicht, ob alles gut ist. Irgendwie ja schon. Es ist alles so wie es immer war. Aber irgendwie hab ich ein komisches Gefühl dabei. Meine Mutter war schon immer so zu mir. Vielleicht sind Mütter auch einfach so und vielleicht übertreibe ich ja auch nur. Immer wenn ich zu meiner Mutter gesagt habe, dass ich zum Psychologen gehen möchte, hat sie gesagt, dass das quatsch ist und das ich das nicht brauche. Sie wollte davon gar nichts hören. Vielleicht hat sie ja recht. Mein Papa hat das ja auch gesagt. Er sagt immer, dass das Leben so ist wie es ist. Er erzählt immer, wenn wir alle zwei Wochenenden bei ihm sind, dass das Leben scheiße ist und das die Menschen alle schlecht sind. Sie denken immer nur an sich selbst und dass das Leben keinen Sinn macht. Es sei wie eine Strafe. Mein Papa mag das Leben und die Welt nicht. Irgendwo hat er ja auch recht. Ich kenne keinen Menschen auf der Welt der lieb ist, außer Andrea. Alle anderen sind immer Gemein. Wenn ich bei Papa in der Stadt zum Spielplatz gehe, gucken mich die Leute immer komisch an. Und wenn ich ihnen 'Hallo' sage, sagen sie nie zurück 'Hallo'. Die Menschen gehen dann einfach an mir vorbei, als würden sie mich nicht sehen. Als wäre ich unsichtbar. Bei uns auf dem Dorf sagen sich alle 'Hallo' oder 'guten Morgen'. Und manchmal stehen sie vor ihren Zäunen und sprechen miteinander. Dann lachen sie immer ganz viel und erzählen, was ihre Kinder alles so tolles machen und können. Da frage ich mich jedes Mal, was ich denn kann. Ich bin nicht gut in der Schule, ich darf in keinen Sportverein. So gerne würde ich in einen Sportverein gehen, aber meine Mutter sagt, dass ist zu teuer. Ich würde so gerne Tanzen oder zum Ballett. Manchmal tanze ich heimlich in meinem Zimmer und bewege mich wie eine Ballerina auf Zehenspitzen. Und dann drehe und drehe und drehe ich mich. Immer wieder und wieder. Das macht so viel Spaß! Im Sommer spiele ich auf unserem Hof manchmal mit meiner Schwester Tennis. Aber lange spielen wir dann nicht. Sie hat immer keine Lust den Ball zu holen, wenn sie ihn mit ihrem Schläger nicht bekommen hat. Dann ist sie immer ganz zickig zu mir. Bei Papa laufe ich mit Karo, der Tochter unserer Vermieterin, Inliner. Wir denken uns dann immer wieder neue Figuren aus. Manchmal auch Choreographien. Und wenn wir die dann ganz viel geübt haben, zeigen wir ihrer Mama Svenja, was wir uns beigebracht haben. Bei Papa bin ich ganz viel draußen. Entweder mit Karo oder mit meiner kleinen Schwester und meiner Stiefschwester Sonja. Eigentlich ist sie nicht meine Stiefschwester. Sie ist die Tochter von der Freundin meines Papas. Sie ist älter als ich und geht auf das Gymnasium. Meine kleine Schwester könnte nächstes Schuljahr auch auf ein Gymnasium gehen, aber meine Mutter sagt, dass wir uns das nicht leisten können und das die Menschen dort alle arrogant und überheblich sind. Deswegen darf sie nicht auf das Gymnasium in unserem Dorf gehen und muss zu mir auf die Realschule. Meiner Schwester scheint das egal zu sein. Ich hätte mich darüber sehr geärgert. Ich würde so gerne auf ein Gymnasium gehen, aber ich bin in der Schule viel zu schlecht. Oftmals kann ich mich auch gar nicht im Unterricht konzentrieren. Dann denke ich immer an andere Sachen. In Deutsch und Englisch bin ich richtig gut. Das macht mir ganz viel Spaß. Auch wenn ich nicht gerne lese, schreibe ich gerne. Am meisten Spaß macht es mir Gedichte und Aufsätze zu schreiben. Im Englischunterricht sind Lara und ich sogar die besten. Wir können schon ganz viel auf Englisch Reden und Schreiben. Wenn uns Mrs. Summer dann lobt, sehen Lara und ich uns immer an und freuen uns riesig darüber. Auch der Kunstunterricht macht mir sehr viel Spaß. Ich male und zeichne für mein Leben gerne! Im Kunstunterricht habe ich zusammen mit Lara immer die besten Noten. So gerne wäre ich Laras Freundin. Ich glaube, dass wir sehr viel Spaß zusammen hätten.
"So Lea. Mein Kollege scheint fertig zu sein. Ich gehe einmal zu ihm." Jetzt habe ich irgendwie doch Lust mit der Polizistin zu sprechen. Andrea und Fred kommen auf mich zu. Fred beugt sich zu mir vor. "Also Lea. Heute wirst du nicht nachhause zu deiner Mama müssen. Du wirst zu Frau Link gebracht. Die Polizisten und ich werden in der Zeit zu dir nachhause fahren und holen 'Lelo' für dich. "
"Okay."
Frau Link ist die Mutter von einem Mädchen, mit dem ich in der Grundschule manchmal gespielt habe. Ihr gehört die Link-Apotheke in unserem Dorf. Ich habe sie schon sehr lange nicht gesehen, genauso wie ihre Tochter Kyra.
Nach den Unterricht sind Kyra und ich hinten zu den Feldern gegangen. Dort haben wir mit den Stöckern gespielt und über den Bach eine Brücke aus Stöcken gebaut. So kamen wir zu einem großen Baum. Er war wunderschön. Er hatte einen dicken Stamm und viele dicke Äste, die nach oben hin immer dünner wurden. Manchmal sind wir auf den Baum rauf geklettert. Von dort aus konnten wir unsere Schule sehen.
Mittlerweile bin ich mit der Polizistin, vor dem Haus von Frau Link, angekommen. Ich hab ganz vergessen wie schön es war. Die weißen Steinmauern glänzen. Alles wirkt so freundlich und liebevoll. Wie ein richtiges Zuhause. Kyras Mutter hat uns damals verboten miteinander zu spielen. Kyra hat gesagt, dass ihre Mutter meint, dass mit mir etwas nicht stimmt. Deswegen bin ich ein bisschen traurig gewesen. Ich bin doch nur ein kleines Mädchen.
"Hallo Lea. Da bist du ja. Komm rein."
Während ich mich an den Esstisch zu Kyra setze, spricht Frau Link noch kurz mit der Polizistin. Kyra sieht noch immer so aus wie früher. Ihre langen blonden Haare hat sie zu einem Zopf gebunden. Sie sieht mich verwirrt an. Vermutlich wundert sie sich, wieso ich hier bin.
"So Lea. Kyra geht schon mal hoch und bereitet alles für dich vor. Wir zwei können uns so lange unterhalten."
Ich nicke ihr zu, schaue danach aber wieder auf den Boden.
"Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen. Was ist denn passiert?"
Ich würde es ihr gerne sagen, aber ich bekomme kein Wort heraus.
Es ist ein Moment der Stille.
"Dein Pullover gefällt mir gut. Ich fand ihn früher schon sehr schön."
"Danke."
Sie hat gesagt, dass sie meinen Pullover schön findet. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt.
"Was macht deine Mama eigentlich beruflich?"
"Meine Mutter arbeitet nicht."
Stattdessen sitzt sie immer nur vor ihrem Conputer oder ist mit ihrem Freund beim Italiener und trinkt dort Kaffee.
"Und wie viel Geld hat deine Mama in Monat? Weißt du das?"
"Hmm...Ich glaube so zwei Millionen, aber meine Mutter sagt, dass ist nicht viel."
Frau Link sieht mich verwundert an.
"Es wird Zeit für's Bett."
In Kyras Zimmer liegt eine Matratze mit einer Bettdecke und einem Kissen auf dem Boden.
"Frau Link! Ich brauche noch eine Tüte."
"Wofür brauchst du denn eine Tüte?"
"Ich mache oft in mein Bett wenn ich schlafe. Nicht das ich eure Matratze kaputt mache."
Nichts sagend verlässt Frau Link Kyras Zimmer und übergibt mir eine Einkaufstüte. Ich lege sie auf die Matratze und decke mich zu.
"Lea, ich werde heute Nacht mal die kleine Lampe an lassen. Gute Nacht."

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