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"Wer reitet so spät durch Nach und Wind..."
Dieses Jahr sollen wir in Deutsch ein Gedicht nach dem anderem Vortragen. Das haben wir in der Grundschule so nie machen müssen. Und dann auch noch so lange. "Danke Lea, setz dich bitte. Das 2. Halbjahr beginnt bald. Das heißt für euch, dass ihr im Sommer in die 6. Klasse kommt." Diszipliniert lauschen alle Schüler den Worten unserer Deutschlehrerin Frau Kuckuck. Bis auf Kilian und Leon. Ich höre sie hinter mir kichern und flüstern. Bestimmt besprechen sie, was sie als nächstes machen können um mich zu ärgern oder sprechen darüber wie fettig meine Haare doch sind und darüber wie sehr ich doch stinke. Eines ihrer Papierkugeln landet vor mir auf dem Tisch. Ich sage nichts. "Im nächsten Schuljahr müssen wir aber keine Gedichte mehr aufsagen, oder?" Sören ist eher der sportliche Typ. Eigentlich ist er auch ganz nett, wenn er mich nicht gerade beleidigt. "Ach Sören, dass ist doch halb so schlimm." Alle rufen genervt um mich herum 'oh nein'. Sie ziehen das nein so lange, als würden sie es ständig gebrauchen. Es fällt ihnen nur so von den Lippen. Und Frau Kuckuck lächelt das einfach weg. Ganz schön mutig von den anderen. "Tatsächlich werden wir nächstes Jahr auch ein Gedicht vortragen, aber nur eines, denn danach seit ihr mit etwas ganz anderem beschäftigt!" Lass es  bitte nicht noch schlimmer sein, als das langweilige Auswendiglernen von Gedichten. Ich mag Gedichte  und schreibe sie auch gerne, aber es macht mir kein Spaß zu lesen. Ich weiß nicht mal genau warum. Meine kleine Schwester liest ständig. Auch mein Papa hat früher immer gelesen. Meine Mutter hat auch Bücher, aber lesen sehe ich sie nur im Sommer auf unseren Balkon. Wenn sie da so in ihrem blauen Bikinioberteil sitzt. Ihr Dekote gerötet von der Sonne. Neben ihr hat sie immer einen Aschenbecher stehen. Selbst an ihrem Computer, an dem sie den ganzen Tag Facebookspiele spielt. Und wenn sie gerade nicht am Computer sitzt, ist sie mit ihrem Freund Uwe bei uns um die Ecke beim Italiener und trinkt dort mit ihm Kaffee.

Die Pausenglocke leutet. Jetzt weiß ich schon wieder nicht, was wir nächstes Jahr in Deutsch machen werden.
Immer wieder versinke ich in meinen eigenen Gedanken,  aber die anderen Kinder aus meiner Klasse kann ich auch nicht fragen. Während ich nach draußen zu den Fahrradständern gehe rufen mir meine Klassenkameraden böse Dinge zu. "Du stinkst!"
"Geh mal Duschen!"
"Geh weg, keiner will dich!"
Ich biege nach rechts ab bevor ich das Schulgebäude verlasse und gehe auf die Toilette. Dort verweile ich einen Moment. Ich stelle meine Schultasche auf den Boden und sehe in den Spiegel. Das hässliche stinkende Mädchen. Ich weiß nicht was ich fühle. Ich weiß nur, dass das gemein ist. Sowas sagt man doch nicht. Ich will doch nur inruhe gelassen werden. Ich habe doch niemanden was getan. Warum macht man sowas? Ich kann es nicht verstehen. Schon seit dem Kindergarten sagen alle so gemeine Dinge zu mir. Keiner wollte mit mir spielen. Keiner wollte mit mir sprechen. Nur manchmal am Maltisch. Da waren manche Kinder nett zu mir und haben mir gesagt, wie schön ich doch malen kann. Aber manchen anderen Kindern war das egal. Sie haben mir immer wieder böse Blicke zugeworfen. Ich konnte ihre Abscheu mir gegenüber in ihren Augen sehen. Es tut weh, wenn man so angesehen wird. Meistens habe ich dann schnell wieder auf mein Blatt gesehen und weiter gemalt.
Ich bücke mich nach meiner Schultasche und hänge sie mir über meine rechte Schulter. Die Toilettentür sieht schwer und mächtig aus, obwohl sie doch ganz weiß ist. Kurz verliere ich mich erneut in meinen Gedanken. Dann öffne ich die Tür und schaue hinaus in den Korridor. Niemand ist zu sehen. Alles ist still. In kleinen Schritte begebe ich mich aus dem Schulgebäude und setze mich auf mein Fahrrad. Ein weiß-lila Damenrad mit einem weißen Sattel und einer kleinen Klingel auf der rechten Seite meines Lenkrads. Zum Glück sind alle schon weg. Mein Fahrrad war das Letzte, welches in den Fahrradständern stand.
Über den Schleichweg fahre ich zurück in unser Dorf. Alles ist ruhig bis auf wenige Autos, die auf der Hauptstraße an mir vorbei fahren. Kurz bevor ich die lange Einfahrt unseres Hofes sehe, höre ich die Kinder aus der Grundschule. Sie stehen an der Bushaltestelle und lachen laut. Ich wende meinen Blick von den Kinder ab und zurück auf die Straße. Hoffentlich lachen sie nicht über mich. Heute habe ich mich dazu entschieden nicht über den Hof nachhause zu fahren. Stattdessen fahre ich mit meinem Fahrrad durch den anliegenden Park. Unter dem Dach von einem alten Bürogebäude stelle ich mein Fahrrad ab und schließe es an. Unsere Nachbarin Frau Igelmann begrüßt mich freundlich und ich gehe in die Wohnung meiner Mutter. "Mamamamamamama"
Vero ruft nach mir. Ich habe gar nicht bemerkt, dass das Auto von Andrea draußen steht. Sie ist die beste Freundin meiner Mutter. Sie ist fast jeden Tag bei uns. Dann sitzen sie in der Küche, Reden und Rauchen. Manchmal ist auch ihr Mann Hendrik dabei. Der ist irgendwie komisch. Vero ist Andreas Tochter.  Sie ist noch ganz klein. Immer wenn sie bei uns zu Besuch sind kümmere ich mich um die Kleine. Andrea begrüßt mich freundlich und fragt mich, wie es in der Schule war. Ich sage gut und greife nach Veros Trinkflasche. Meine Mutter hat mich das noch nie gefragt. Es ist komisch für mich, wenn Andrea mich nach meinem Schultag fragt. Was antwortet man denn da? Ist 'gut' die richtige Antwort? Oder erzählt man, was man im Unterricht gemacht hat?
Vero sieht mich aus dem Wohnzimmer mit ihren großen braunen Kulleraugen lächelnd an. Jedes mal wenn sie mich sieht freut sie sich. Ich nehme sie auf meinen Arm und wir setzen uns auf den Boden. Währenddessen greift sie schon nach der Trinkflasche. Vero schmeckt ihr Essen. Sie wird dann auch immer ganz ruhig und manchmal fallen ihr dabei für einen kurzen Moment die Augen zu, so wie jetzt gerade. Ich kümmere mich gerne um Vero. Ich hab sie ganz dolle lieb. Auch wenn ich es komisch finde, dass sie zu mir 'Mama' sagt. Das eine mal, als wir bei Hendrik und Andrea zu Besuch waren, hat sie es das erste mal gesagt. Ich habe mit ihr im Flur vor der Küche gesessen und gespielt. Ein- oder Zweimal habe ich ihr gesagt, dass ich nicht ihre Mama bin,  sonder das ihre Mama in der Küche sitzt und habe auf sie gezeigt. Aber Vero war das egal. Sie hat mich dann ganz traurig angesehen und wieder 'Mama' gesagt.
Mittlerweile hat Vero die ganze Flasche ausgetrunken. Auf dem Wohnzimmerboden lege ich Kissen aus meinem Zimmer. Daneben mein 'Lelo'.
"Jetzt ist Schlafenszeit." Ich lege Vero auf die Kissen und decke sie mit meiner Babydecke zu. Zuerst versucht sie auf zu stehen. Aber dann lege ich mich zu ihr. Sie sieht mir ganz tief in die Augen und schläft langsam ein. Meine kleine Schwester Julia sieht nebenbei Fern. Sie hat von all dem gar nichts mitbekommen. Sie ist fast 2 Jahre jünger als ich und geht noch in die Grundschule. Mein kleiner Bruder Jeremie ist in der 1. Klasse. Seit ein paar Wochen wohnt er bei seinem Papa. Meine Mutter sagt immer, dass er ADHS hat und hat meinem Bruder und mir immer diese kleinen Kugeln gegeben. Die hatten einen ganz lustigen Namen.
Die Kugeln hießen 'Zappelphillip'. Manchmal bekomme ich sie immer noch. Sie schmecken ganz süß, wie kleine BonBons.
Im Fernsehen läuft gerade Pokemon. Ich hätte auch so gerne einen Pikachu. Dann hätte ich auch einen Freund und der hätte mich ganz dolle lieb. Und ich hätte ihn auch ganz dolle lieb. Aber am liebsten gucke ich Winx club. Da sind 5 Feen und die retten die Erde und die magische Welt 'Magix' vor den Bösen. Sie sind auch Freunde und immer für einander da. Die Feen können zaubern und jede hat ihr eigenes Element. Wenn ich doch nur auch so zaubern könnte, wie diese Feen. Dann könnte ich alles Böse wegzaubern und überall hin fliegen. Ich könnte meine richtigen Eltern suchen und hoffentlich auch finden. Meine Mutter kann niemals meine Mutter sein. Das will ich auch gar nicht. 
Vero ist aufgewacht und zusammen üben wir das Laufen. Sie kann das schon richtig gut. Und wenn sie hinfällt und weint nehme ich sie in den Arm und tröste sie. Manchmal singe ich ihr dann ein Lied vor, damit sie sich wieder beruhigt. Das funktioniert immer ganz gut. Ihre Windel wechsel ich immer kurz bevor Andrea nachhause fährt, sowie jetzt. Andrea bedankt sich dann immer bei mir. Ich mag sie. Sie ist immer so nett und lustig. Warum kann sie nicht meine Mutter sein? Dann wäre Vero meine kleine Schwester. Und Zoe auch. Manchmal kommt sie mit zu uns, wenn Andrea uns besucht. Dann spielen wir immer zusammen, dass wir Feen sind, wenn Vero schläft. Andrea kommt zu uns in unser Wohnzimmer und möchte Vero mitnehmen, aber sie hält sich ganz doll an mir fest. Manchmal weint sie auch,  wenn sie mit ihrer Mama nachhause fährt . Meine Mutter verabschiedet sich fröhlich von ihrer Freundin.
Dann setzt sie sich vor ihren Computer und raucht und spielt. Ich habe großen Hunger und stelle mich hinter ihr in die Wohnzimmertür. Ich will sie fragen, was es zu essen gibt. Ich habe so einen großen Hunger, aber aus meinem Mund kommt nichts heraus. Ich traue mich nicht. Meine Beine fühlen sich ganz schwer an. Ich kann mich nicht Bewegen. Nur meine Finger pulen aneinander herum. Der Zigarettenqualm verteilt sich im ganzen Wohnzimmer. In meinem Brustkorb kann ich fühlen wie schnell mein Herz schlägt. Ich zitter am ganzen Körper. Ich will das es aufhört, aber es wird nur schlimmer.
Mittlerweile stehe ich schon 12 Minuten hinter ihr. Mein Magen knurrt. "Was.. was gibt es heute zu essen?"
Meine Mutter reagiert nicht.
"Mama...?"
Sie seufzt. "Keine Ahnung. Mach dir doch selber was."
Sie hat mich nicht einmal angesehen und zieht an ihrer Zigarette. In der Küche ist der Kühlschrank mal wieder leer. Nur vier Scheiben Toastbrot und eine halbe Packung Salami sind noch da. Das braucht meine Schwester morgen. Im Vorratsschrank finde ich noch ein Maggie-Päckchen Tomatensoße und eine Packung Nudeln. Das müsste für meine Schwester und mich reichen. Ich habe noch nie zuvor gekocht. Hoffentlich wird es schmecken. Ich mache es einfach so, wie meine Mutter es immer macht. Wasser kochen und dann Salz und die Nudeln ins Wasser. Zwischendurch probieren ob sie schon weich genug sind. Und die Soße muss ich einrühren und dann muss sie Kochen bis sie dick ist oder so. Und jetzt wo die Nudeln fertig sind, muss ich sie mit dem heißen Wasser in das Sieb kippen. Der Dampf ist so heiß,  dass mir der Topf in die Spüle fällt.  "Aua!"  Die Soße ist mittlerweile fertig und fängt an zu spritzen.  Ich will den Topf vom Herd nehmen, aber bis ich ein Geschirrtuch gefunden habe, um den Topf anzuheben, hat sich die Soße schon auf der ganzen Tapete verteilt. "Scheiße.. Das wird Ärger geben. Wo ist der Lappen?!" Ich versuche die rote Soße von der weißen Tapete wegzuwischen, aber der Fleck wird nur größer. "Mist! Wenn meine Mutter das sieht! Was mach ich denn jetzt?" All meine Versuche die Flecken zu entfernen scheitern. Die Nudeln aus der Spüle schmecken gut und auch die Soße ist inordnung, auch wenn sie am Boden leicht angebrannt ist. Nachdem ich mein Geschirr in die Spüle gestellt habe gehe ich in mein Zimmer. Ich nehme mir meinen Gameboy und setze mich auf das Sofa. Pokemon spiele ich gerne, aber am liebsten spiele ich bei Papa auf der Gamecube Zelda. Das macht mir am meisten Spaß. Ich höre das schnelle Stampfen meiner Mutter. Sie kommt in mein Zimmer und sieht mich wütend an. "Du Misststück! Du kleine Schlampe! Was fällt dir ein?!" Sie schreit und schreit. "Du hast jetzt Zimmerarest!" Ich sitze zusammengekauert auf meinem Sofa und halte meinen Ganeboy ganz fest. Mit den nächsten Schreien kommt sie auf mich zu. Sie haut mich mit ihrer flachen Hand in mein Gesicht und ich fange an zu weinen. Dann ballt sie ihre Hand zu einer Faust. Immer wieder und wieder schlägt sie auf mich ein. Ihre Schreie werden lauter. Nach einer Weile hört sie auf und verlässt das Zimmer.
Mein linker Arm tut mir am meisten weh.  Die Tränen laufen über mein Gesicht. Leise weine ich vor mich hin. Mir wird ganz übel. Den Gameboy halte ich noch immer fest in meiner Hand. Draußen hat es angefangen zu regnen. Ich höre wie die Regentropfen gegen meine Fensterscheibe rieseln. Es beruhigt mich etwas. Von draußen sieht man das helle Licht des Mondes in mein Zimmer scheinen. Ich stehe auf und greife zu dem Messer unter meinem Bett. "Ich hasse sie! Das ist nicht meine Mutter! Warum hat sie mich damals nicht abgetrieben!" Mit diesen Worten setze ich das Messer an meinem linken Unterarm an. Der Schmerz der Wunden zeigt mir, dass ich noch lebe. Das es alles leider kein Traum ist. Ich hab es ja auch nicht anders verdient. Es beruhigt mich zu sehen wie das Blut über meinen Arm fließt und auf den Teppichboden tropft. Nachdem die Wunden aufgehört haben zu bluten, lege ich das Messer zurück und kletter auf mein Hochbett. Neben mir 'Lelo' und das Schnuffeltuch. Das Licht vom Gameboy strahlt meine glasigen Augen an. Bis spät in die Nacht spiele ich auf meinem Gameboy, bis mir vor Erschöpfung die Augen zu fallen.

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