XV - Stumm

130 13 2
                                    

Wochen vergehen, und Astoria hat das Gefühl, dass sie und Draco aneinander vorbeiziehen. Es ist nicht so, dass sie nicht miteinander sprechen. Sie reden viel, über Leidenschaften, Ziele und Wünsche, über Pläne, die sie irgendwann einmal verfolgen wollen, und die man vielleicht vor einer Hochzeit hätte klären sollen. Zu Astorias Überraschung überlappen sich einige davon – wie der Wunsch, nach Brasilien zu fliegen oder in Australien nach neuen Zaubertrankzutaten zu suchen. Ihre Flitterwochen verbringen sie an einem spanischen Strand, in dessen Namen Draco das R nicht richtig rollen kann, was Astoria insgeheim niedlich findet, worüber sie sich aber offiziell nur amüsiert. Endlich hat sie das Gefühl, ihn tatsächlich kennenzulernen, nicht bloß mit einer Maske seiner selbst zu sprechen.

Nur um ein Thema macht er nach wie vor einen großen Bogen: Die Zeit unter Voldemort und die darauffolgenden strafrechtlichen Prozesse sind Tabu, aber das ist ihr ohnehin recht. Sie will ebenfalls nicht darüber sprechen, womit ihre Familie zu diesen Zeiten gekämpft hat. Dennoch bekommt sie das Gefühl, dass er sich ihr gegenüber entspannt, sich in ihrer Gegenwart wohlfühlt. Wenn sie nur das gleiche Vertrauen aufbringen könnte... Aber das kann sie aus dem schlichten Grund nicht, da Draco ihr wahres Selbst niemals annehmen würde. Er hält sie für eine zerbrechliche Puppe, der er kaum etwas zumuten kann, und obwohl es nicht immer Spaß macht, auf diesem Podest zu balancieren, so ist das doch hundertmal besser, als wenn er die Wahrheit erführe.

Seit der zurückhaltenden Hochzeitsnacht ist er ihr nicht mehr nahegekommen. Sie haben ein paar sanfte Küsse getauscht, bei Sonnenuntergang, bei Spaziergängen am Meer, vor dem Schlafengehen – aber sie hat ihn nicht auf mehr eingeladen, und er hat nicht darauf bestanden. Er hält ihre Hand, er zieht sie auf dem Sofa an sich, wenn sie gemeinsam Bücher lesen, und sie genießt das Gefühl der Ruhe und Geborgenheit, das sich dabei in ihr ausbreitet. Sie kann es nicht leugnen, sie fühlt sich sicher und beschützt bei ihm, und es gefällt ihr immer mehr, Zeit mit ihm zu verbringen.

Trotzdem hält sie ihn noch auf Distanz, und er erträgt ihre vorgegebene Schüchternheit mit einer Engelsgeduld. Gibt nie ein Zeichen der Erwartung oder der Enttäuschung von sich. Wieder zurück in London überreicht er ihr regelmäßig Blumen und Schmuck, die sie mit einem schlechten Gewissen annimmt.

Sie ist sich selbst nicht einmal sicher, warum sie sich so ziert. Möglicherweise, weil sich der Vollzug der Ehe anfühlen würde, als würde sie ihre Rückfahrkarte in die Freiheit verbrennen – obwohl es dafür ohnehin schon zu spät ist. Aber sie kann sich einfach nicht dazu durchringen, egal, wie sehr Draco sich um sie bemüht.

Eines Abends im November hört sie, wie Draco in der Küche ihres neuen gemeinsamen Hauses mit jemandem spricht. Sie hat nicht vor, zu lauschen, wirklich nicht, aber ihr Name fällt, als sie gerade die Türklinke hinunterdrücken will, und so stockt sie und hält den Atem an, ganz ohne ihr eigenes Zutun. Draco klingt nicht wütend oder ungeduldig, nur traurig.

„... ich merke ja, dass sie etwas vor mir verbirgt. Ich will sie zu nichts zwingen, ich spreche schließlich selbst nicht gerne über den Krieg. Aber ich weiß nicht, was ich sonst noch tun kann... Ich habe das Gefühl, ihr näherzukommen, aber gleichzeitig entgleitet sie mir jedes Mal, wenn ich glaube, etwas Neues über sie herausgefunden zu haben. Sie versteckt sich vor mir, und ich weiß nicht, wie ich ihr Vertrauen erringen kann. Dass ich ihr vertraue ist hoffentlich offensichtlich, aber..."

Die Stimme, die antwortet, bringt Astoria aus dem Konzept.

Lucius.

„Hast du es einmal damit versucht, sie ganz konkret darauf anzusprechen?"

Dracos Widerwillen ist nicht zu überhören. „Ich will sie zu nichts drängen. Ich habe das Gefühl, dass es sie ohnehin schon überfordert, mich geheiratet zu haben, ich will sie nicht noch mehr aus ihrer Komfortzone zwingen..."

Das genügt. Bevor Lucius auf die Idee kommt, darauf etwas zu antworten, was er nicht sollte, macht Astoria zwei laute, demonstrative Schritte, ehe sie an die Tür klopft und eintritt. Sie begrüßt Draco mit einem sanften Lächeln und einem Kuss, lässt sich nicht anmerken, was sie gerade gehört hat. Sie vermeidet es, Lucius anzusehen, bis sie ihm direkt gegenübersteht – sie hat damit gerechnet, wie sein Anblick auf sie wirken wird. Trotzdem geschieht genau das, was sie erwartet. Die Luft wird ihr ein wenig knapp, Erinnerungen fluten zurück und gleichzeitig muss sie eine höfliche Miene bewahren. „Lucius, das ist eine schöne Überraschung. Was führt dich hierher?" Sie gibt ihm geziert die Hand, die er mit einem sanften Druck wieder freigibt.

„Ach, ich war nur in der Gegend, und wollte meinem Sohn und seiner wunderbaren Frau einen Besuch abstatten. Das ist doch wohl nicht verboten?" Lügner.

„Natürlich nicht, ich habe nur nicht mit dir gerechnet. Du bist uns jederzeit willkommen." Heucheln kann sie auch, selbst, wenn sie es gerade vielleicht ein bisschen übertreibt.

„Aber wo ich gerade da bin, kann ich dich auf ein Wort unter vier Augen sprechen, Astoria?" Draco versteift sich an ihrer Seite und mustert seinen Vater offensichtlich warnend. „Das ist ja wohl kaum notwendig... Was hast du mit ihr zu besprechen, das du mir nicht sagen kannst?"

Lucius ist nicht aus der Ruhe zu bringen. „Ich will lediglich mit meiner Schwiegertochter ein paar Worte wechseln. Bitte, Draco, da ist nichts dabei." Anscheinend fürchtet Draco, dass Lucius sie auf seine Bedenken ansprechen könnte. Gerne würde sie ihm diese Angst nehmen, und ihm obendrein gestehen, wie Recht er mit manchen seiner Vermutungen hat, und wie falsch er mit anderen liegt... Aber schon unterbricht er sie in diesem wahnwitzigen Impuls.

„Schön. Ich muss ohnehin los, ich treffe mich gleich mit Gregory zum Abendessen. Seid nett zueinander", fügt er halb scherzhaft, halb ernst hinzu, dann küsst er Astoria zum Abschied und geht.

Das Haustor ist gerade erst ins Schloss gefallen, als Lucius zur Sache kommt. „Bist du wahnsinnig oder einfach nur dumm?"

„Bitte was? Wie redest du mit mir?", fragt Astoria zurück, durch diesen unerwarteten Angriff irritiert.

„Draco liebt dich. Er liebt dich wirklich, von ganzem Herzen. Weißt du eigentlich, was du ihm damit antust, dass du ihn so von dir schiebst? Er verzweifelt darüber, er weiß nicht, wie er dich glücklich machen kann, und das ist alles, was er will. Warum stellst du dich ihm gegenüber so an?"

„Was ich ihm damit antue?!" Seine Ignoranz lässt Astoria rotsehen. „Darf ich dich daran erinnern, dass du Dracos Vater bist? Und du warst mit mindestens genau so viel Begeisterung dabei! Es ist vollkommen unfair, mir jetzt die komplette Verantwortung zu übertragen! Vielleicht würde mir das alles leichter fallen, wenn das zwischen uns nicht passiert wäre!"

Sie atmet schwer, fühlt sich bereit, Lucius einen Fluch aufzuhalsen. Aber er kommt ihr mit seinen Worten zuvor. „Ich habe dich für klüger gehalten. Es war offensichtlich, dass das für uns beide nur Spaß war, und wir haben beide gewusst, worauf es hinauslaufen wird. Du hast dich dafür entschieden, Draco zu heiraten und die Konsequenzen hast du jetzt zu tragen! Du hast Glück, dass er so geduldig mit dir ist, aber für immer wird das auch nicht so sein – ich wäre es schon längst nicht mehr! Ihr seid verheiratet, du hast deinen Weg gewählt, jetzt akzeptiere das!"

Mit einem Mal wird Astoria ganz still. Die Andeutung, dass zwischen ihr und Lucius nie mehr gewesen ist, als Sex – von ein paar freundschaftlichen Gesprächen abgesehen – schmerzt mehr, als sie es gedacht hätte. Aber sie kann damit umgehen. Er hat Recht, sie hätte es wissen müssen – hat es gewusst. Das muss genügen, um ihn loszulassen. Sie schließt die Augen, als flehe sie um Geduld. Dann sagt sie ganz leise, bestimmt: „Raus." Die Silbe hat ihren Mund kaum verlassen, da greift Lucius schon nach seinem Umhang und disappariert. 

Astoria bleibt in der Küche zurück, die sich trotz des intakten Porzellans anfühlt, als hätte man alles um sie herum in Scherben geschlagen. 

Ain't My Fault (Adventskalender 2019)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt