9. Kapitel

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Nachdem ich eingesehen hatte, dass Laurent auf die Rettung von Vincent bestehen würde, machte ich mich mit dem Meisterdieb daran, einen Plan auszuarbeiten. Wenn ich eines in meinen 5 Jahren des Betrüges gelernt hatte, dann das man vorausplanen musste. Uns gelang es nicht, herauszufinden wo Vincent gewohnt hatte, doch das hielt Laurent nicht auf: voller Elan arbeitete er emsig an dem Schlachtplan.
Er hatte mich mehrmals gefragt, warum ich ihm half, und jedes Mal hatte ich ihm eine plausible Erklärung gegeben: dass das eine der letzten Möglichkeiten war, vor einer möglichen Verlobung ein Abenteuer zu erleben. Ich versuchte mir selbst einzureden, dass das auch die Erklärung war, doch dem war nicht so. Es gab einen weiteren Grund, den ich Laurent noch nicht bereit war, zu erzählen.

Wir arbeiteten bis spät in die Nacht und ich schickte Mary mit einem Brief zu meinem Kontakt, um ihr meine Grüße auszurichten und dass ich morgen gerne ihrer Dinnerparty mit meinem Verlobten beiwohnen wollte.

"Ich muss deinen Verlobten spielen?", fragte mich Laurent misstrauisch, als er am Abend kurz davor war, es sich im Gästezimmer gemütlich zu machen.
Ich seufzte. Mary hatte sich also wieder mal verplappert.

"Ja allerdings. Eine Lady meines Alters schickt sich nicht, keinen Gatten zu haben."

Er hob eine Augenbraue. "Du bist höchstens zwanzig."

"Ich weiß", gab ich kühl zurück und schloss seine Zimmertür. Den Schlüssel ließ ich im Schloss stecken. Dann strich ich mir über das Kleid und verschwand in mein Zimmer.

"Ich will nicht gestört werden!", rief ich Mary zu, als ich meine Tür zu donnerte.

Nachdem ich heute jemanden gesehen hatte, der aus armen Verhältnissen kannte, wurde mir erst bewusst wie gut ich es hatte. Mit Gold verzierte, grazile Möbel standen wohlplaziert im Zimmer, die Wände waren mit Zeichnungen etwaiger eher unbekannter Künstler geschmückt und über meinem ausladenen Bett hing ein eingerahmes Kinderlied, das meine Mutter mir früher vorgelesen hatte. Sie hatte es aus ihrer Heimat, Amerika mitgebracht, und ein Freund von ihr hatte es gedichtet, der genau wie sie bereits gestorben war.

Mitternacht umgab mich schaurig, als ich einsam, trüb und traurig,
Sinnend saß und las von mancher längstverklung'nen Mähr' und Lehr' -
Als ich schon mit matten Blicken im Begriff, in Schlaf zu nicken,

Hörte plötzlich ich ein Ticken an die Zimmerthüre her;

„Ein Besuch wohl noch," so dacht' ich, „den der Zufall führet her -

Ein Besuch und sonst Nichts mehr."

Leider waren mir beim Umzug vom Haus meiner Tante in meine eigene Wohnung die restlichen Seiten abhanden gekommen.
Obwohl ich mich als Kind vor dem Reim, oder eher Gedicht, gegruselt hatte, hatte ich es nach dem Zugunglück aufbewahrt. Nicht einmal Tante Eliza hatte mir verbieten können, das in ihren Augen makabere Gedicht aufzuhängen. Zielbewusst steuerte ich auf meinen Sekretär zu und zog die oberste Schublade hinaus, von der ich auch den zweiten Boden entfernte. Obwohl Mary wusste, wodurch ich mein Geld verdiente, vermied ich es offen zugänglich zu machen, zu mal ich in letzter Zeit ziemlich viele Gäste hatte. Ich zog einen Stapel Mappen aus dem Geheimfach und begann, nach "P" zu suchen. Es hatte gefühlte Ewigkeiten gedauert, jedes noch so kleine Verbrechen in den Stadtviertel England und anderer bekannten Städte einer Mappe hinzuzufügen. Eigentlich gehörte mir die Akte nicht.

Es war Mary, die auf die Idee gekommen war, Profile von Verbrechern anzufertigen. Es wurmte mich, dass sie darin so gut war, aber falls eine Frau jemals würde studieren können, dann würde Mary eine der ersten sein... egal, ob sie bereits achtzig war. Ich musste bei dem Gedanken lächeln. Wenn jemand es verdient hatte zu studieren, dann Mary.

Laurent der MeisterdiebWo Geschichten leben. Entdecke jetzt