22. Kapitel

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Ich bereute erst so spät ins Bett gegangen zu sein. Vincent und Constanze waren zwar auch nicht ausgelassen, aber wenigstens halbwegs ausgeschlafen. Vincent hatte sich rasiert und die alten Klamotten von Constanzes Bruder angezogen. Es stand ihm richtig gut, er wirkte wie ein ordentlicher Engländer. Am Morgen war in London die Nachricht umhergegangen, dass zwei Verbrecher mit unbekannten Namen aus dem Tower ausbrachen, doch diese Neuigkeit wurde von den Ereignissen des heutigen Tages überschatten. Jeder wusste Bescheid, dass heute der Meisterdieb von Paris hingerichtet werden sollte- nicht mal ein Prozess sollte er bekommen.

Das war wohl das Einzige, was halbwegs glücklich verlaufen war, ein erfreulicher Zufall. Denn wie hätte Mick, den wir mit Vincent ausgetauscht hatten, Fragen des Richters beantworten können? Nicht nur weil er stumm war würde es nicht gehen, nein, wenn man sein Gesicht sah wäre alles kaputt gewesen. Der einzige Grund, warum wir überhaupt jetzt in dieser Lage waren, warum Micks Leben gefährdet war, war das unbeschreibliche Ego von Vincent.

Ich hatte die ganze Nacht darüber nachgedacht, was auch der Grund war weshalb ich heute morgen kaum ein Auge aufhalten konnte. Aber ich war wütend auf Vincent, verdammt wütend sogar und das schockierte mich auf eine Weise, wie ich sie nicht erwartet hatte.

Mick war mein Freund gewesen, aber das war mehr als ein Jahrzehnt her. Vincent war fast schon neun Jahre mein Partner gewesen, es war nur logisch, dass meine Treue ihm galt. Doch ich musste nur daran denken, dass Vincent bereit wäre Mick zu opfern, nur damit er sich eine neue Identität beschaffen konnte und man Vincent de Montgomery für tot hielt. De Montgomery. Selbst das brachte mich heute zur Weißglut.
Wir saßen am Tisch, es war neun Uhr morgens und die Gemüter waren sowieso gereizt, weil die Hinrichtung in drei Stunden sein würde, als mir der Kragen platzte.

"Nochmals Danke an Mick", sagte Vincent, strich sich Butter auf sein Brot und öffnete die Marmelade.

Ich umklammerte meine Gabel und ließ sie in die weiche Butter vor mir sausen, die Vincent gerade zurückgestellt hatte. Vincent runzelte die Stirn und Constanze ließ ihr Besteck sinken.

"Das kannst du ihm auch selbst sagen", fauchte ich.

"Hast recht", meinte Vincent gelassen, doch damit gab ich mich nicht zufrieden.

"Oder erwartest du etwa, dass Mick draufgeht?!"

"Nein! Überhaupt nicht!"

"Laurent", wollte Constanze mich beruhigen, doch ich unterbrach sie.

"Warum hätten wir dich nicht einfach darausholen können? Warum muss unser Freund jetzt sein Leben riskieren?!"

"Mir gefällt dein Ton nicht", erklärte Vincent und beobachtete mich aus seinen listigen Augen.

"Mir gefällt es nicht, dass Mick draufgehen wird!"

"Laurent!", zischte Constanze und warf mir einen schockierten Blick zu. "Das war Micks Entschei-"

"Es war nicht seine Entscheidung! Wir haben ihn gezwungen, Constanze, kapierst du das nicht? Nur weil das Ego von Vincent zu groß ist!"

"Es ist sicherer, wenn meine Identität ganz ausgelöscht wird. Die Polizei soll nicht nach mir fahnden..."

Ich starrte ihn an und meine Hand umklammerte die Gabel. Ich schäumte praktisch vor einer plötzlichen Wut, die mich von innen heraus verätzte. "Weißt du was, Vincent? Ich wünschte mir, ich hätte niemals versucht dir zu helfen und niemals Mick da hineingezogen!"

Vincent sah mich merkwürdig an. Seine Schulter sackten zusammen und etwas verschwand aus seinen Augen, ein kleines Glitzern, so etwas wie Stolz, den ich bisher nur in Augen von... von meinem Vater gesehen habe. Für einen Moment schien er sich zu verändern; seine Augen wurden strenger, seine Gesichtszüge härter und dann... dann blickte ich in das Gesicht von James Morton.

Laurent der MeisterdiebWo Geschichten leben. Entdecke jetzt