Nemesis

5. Kapitel

Du wurdest sanft von deinen zwei Mitbewohnerinnen geweckt, indem sie sich neben dich auf den Boden gesetzt hatten und leise deinen Namen sagten.
Deine Augenlider waren schwer von dem vielen Weinen vergangener Nacht und fühlten sich angeschwollen an.
Als du - nun offensichtlich wach - versuchtest dich aufzusetzen und dich umzublicken, musstest du kurz einige Male blinzeln.
Die Sonne schien dir direkt ins Gesicht und du sahst nun zu Charlie und Lola.
Sie hatten dich die halbe Nacht getröstet, obwohl sie nicht verstanden hatten, was denn passiert war. Du konntest ihnen schlecht sagen, dass Negan und du eine Vergangenheit hattet und er dir gebeichtet, dass er dich nur so verabscheut hatte, weil er dich nicht aus dem Kopf bekam.
Und du wusstest nicht, ob du wegen Schuldgefühlen gegenüber Lucille geweint hattest, oder wegen der gesamten Zeit, die er dir zur Hölle gemacht hatte... oder ... oder, weil seine Ehrlichkeit dich so sehr getroffen hatte, dass du dir über deine Gefühle neu im klaren werden musstest.

„Geht es dir besser?“, fragte Charlie mütterlich besorgt und streichelte deinen Rücken.
Du nicktest, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach.

„Das wurde soeben für dich abgegeben“, sagte Lola und drückte dir ein ledernes Buch in die Hand. „Irgendein Savior meinte, dass das für dich sei und ich würde mal sagen du hast einen geheimen Verehrer!“
Deine Augen weiteten sich. War das dein Buch!? Eines deiner Notizhefte? Vor allem dein Liebstes?
Du nahmst es rasch entgegen und erkanntest das alte und zerkratzte Leder drum herum. Das war tatsächlich deines.
Das, das Negan noch gestern bei sich hatte. Du wusstest nicht mehr was du denken solltest und seufztest.
Trotzdem warst du erleichtert.
Du wolltest nicht unnötig weiterfragen, denn Negan hatte höchstwahrscheinlich einer seiner Männer dafür beauftragt es dir zu geben, damit er nicht hier gesichtet wurde.

„Hat gemeint wir sollen dir das geben, wenn du aufwachst und dir schöne Grüße da lassen!“ Charlie schien aufgeregter, als du und du musstest lächeln.
Du würdest die beiden vermissen.
Sie machten Anstalten aufzustehen und sich fertigzumachen.

„Du hast heute Küchendienst“, erinnerte dich Charlie. „Brauchst du kurz einen Moment?“
Du sahst sie dankbar an. Nachdem du ihnen verraten hattest, dass dies alles viel zu viel für dich war und du dein altes Leben vermisstest und daran erinnert wurdest - je länger du hier warst -, schienen sie zu erkennen, wie wichtig dir das dicke Notizbuch war.

„Ja“, sagtest du und fühltest wie trocken dein Mund war, „bitte.“
Lola und Charlie lächelten dich verständnisvoll an und verließen kurzerhand euer Zimmer um sich auf den Weg zur Küche zu machen.
Als die Tür hinter ihnen zu fiel, atmetest du zwei Mal tief ein und aus.
Dann schlugst du das Notizbuch auf um dich zu versichern, dass alles so war, wie du es hinterlassen hattest.
Du blättertest langsam durch die Seiten und wolltest es fast zuklappen, als dir ein kleines loses Blatt Papier auffiel, das zwischen zwei Seiten steckte.

Sieh es als kleine Bestechung an.
N

Du musstest die wenigen Worte zwei mal Lesen um aufzunehmen, was da eigentlich stand und von wem es da gelassen wurde.
N...
Er hatte wirklich eine seltsame Art, Nettigkeit zu zeigen, doch im Augenblick warst du bloß glücklich, dass du dieses Notizbuch in deinen Händen halten konntest.
Entschlossen rappeltest du dich auf und zogst dich um. Das Buch verstecktest du unter deiner Matratze und machtest dich dann auf zum Küchendienst; froh darüber den Tag mit Lola und Charlie zu verbringen.

Noch immer überrumpelt durch letzter Nachts Geschehnisse und Negans plötzlicher Güte heute Morgen, liefst du wie benebelt in den großen Essenssaal.
Es machte zwar keinen großen Unterschied, du hasstest ihn immer noch, aber du hättest nicht erwartet, dass er dir so entgegen kommen würde. Das verstärkte nur seine Worte; du warst dir sicher, er würde alles dafür tun, dich nicht gehen zu lassen, was ein so seltsam fremdes Konzept war, dass es dir die Sprache verschlug.