Kapitel 1

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Mit einer Mischung aus Vorfreude und Nervosität drückte ich den Klingelknopf und sah mich um. Ich stand auf einer mit Blumentöpfen dekorierten Veranda vor einer hellen Holzfassade, hinter mir ein verspielter Vorgarten mit wilden Blumen, Rasen und einer Schaukel, rechts neben mir eine Auffahrt mit dem obligatorischen Basketballkorb.Seitlich von der Eingangstür, hinter der ich nun Schritte und Stimmen näherkommen hörte, entdeckte ich Schuhe von unterschiedlichster Größe, einige ordentlich nebeneinander, andere wirkten, als seien sie ungeduldig von den Füßen gekickt worden. Ich genoss die warme Luft, die mich umschmeichelte. Miami im Oktober war schon etwas anderes als Norddeutschland im Oktober.

Endlich öffnete sich zuerst die Haustür und dann das Insektengitter. Mit einem begeisterten Schrei zog Christy mich in ihre Arme. »Allie, endlich!« Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und hielt mich dann auf Armeslänge, um mich genau zu betrachten. »Gut siehst du aus«, stellte sie fest.

»Danke, du auch. Das längere Haar steht dir prima.« Mein Blick blieb auf einem Mädchen hängen, das einen Schritt hinter Christy stand. »Emma? Meine Güte, bist du groß geworden. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, warst du erst fünf. Kennst du mich überhaupt noch?« »Nicht so wirklich«, gab sie zu. Sie musste jetzt zehn sein und sah aus wie eine jüngere Ausgabe von Christy. Das gleiche nussbraune, glänzende Haar, das runde Gesicht und die graublauen Augen. Ich reichte ihr die Hand. Sie schien erleichtert, dass ich sie nicht in meine Arme zog und an mich drückte. Ich konnte sie verstehen. Es wäre mir auch unangenehm gewesen, von einer Verwandten, die ich als kleines Kind das letzte Mal gesehen hatte, so übertrieben herzlich begrüßt zu werden.

»Das ist mein Mann George«, sagte Christy, und ich konnte den Stolz und die Zuneigung in ihrer Stimme hören. Als ich ihn betrachtete, verstand ich warum. Georges Haut war braungebrannt, er hatte dunkles, leicht gelocktes Haar, ein kantiges, gut geschnittenes Gesicht und Augen, die vergnügt blitzten. Ich schüttelte ihm die Hand. Er schenkte mir ein Lächeln, das ihn noch attraktiver wirken ließ. Donnerwetter, Christy, dachte ich anerkennend.

»Willkommen zurück in der Heimat«, sagte George. Er sprach leise, seine Stimme klang tief und ruhig. Irgendwie ... souverän. Er machte auf den ersten Blick den Eindruck, als könne ihn nichts erschüttern oder seine gute Laune trüben. »Das sind Sandy und Tommy, meine Kinder.« George wies auf ein Mädchen, das im Alter von Emma sein musste, und einen kleinen Jungen von etwa sechs Jahren. »Stimmt das, du warst in Deutschland?«, fragte der Kleine. »Ist das weit weg?«

Ich nickte. »Ziemlich weit. Es liegt auf der anderen Seite des großen Ozeans.«

»Kannst du was auf Deutsch sagen?«

»Natürlich.« Ich überlegte und bedankte mich dann für das herzliche Willkommen und dafür, dass ich zunächst hierbleiben dürfe. »Das klingt ja komisch«, beschied Tommy kichernd.

»Und was bedeutet das?«, wollte Emma wissen. Ich sagte es ihr und George versicherte mir daraufhin, dass sie sich freuen würden, dass ich da sei. »So, genug der Vorstellerei«, sagte Christy bestimmt und nahm mir meinen Koffer ab. »Komm endlich rein.«

Hinter der Patchwork-Familie betrat ich das Haus. Hell und fröhlich waren die ersten Worte, die mir durch den Kopf gingen, als ich mich umschaute. Die Einrichtung war gemütlich und man sah gleich, dass in diesem Haus Kinder lebten. Dennoch wirkte alles sehr ordentlich. Typisch Christy, dachte ich. Wie schafft sie das nur immer? »Ihr habt es wirklich schön«, sagte ich ehrlich.

»Warte nur ab, bis du dein Zimmer gesehen hast«, erwiderte George lächelnd. »Christy wollte wohl sichergehen, dass du für den Rest deines Lebens nicht mehr woanders wohnen möchtest.« Dankbar betrachtete ich meine Cousine. Wir waren nicht nur verwandt, sondern auch eng befreundet. Sie kannte mich besser als jeder andere Mensch auf der Welt, war über alle Geheimnisse und Erlebnisse in meinem Leben informiert. Die fünf Jahre, die ich in Europa gewesen war, hatten wir uns regelmäßig geschrieben. Briefe, ganz altmodisch. Sie wusste von meiner Beziehung zu Karsten, die endete, als ich ihm sagte, dass ich schwanger sei, und auch von der darauffolgenden Abtreibung, die ich im Nachhinein bereute. Zwei Monate lang ging es mir richtig dreckig und in jener Zeit reifte der Entschluss, Deutschland zu verlassen und in meine Heimat zurückzukehren. Christy unterstützte mich sofort und bot mir schon da an, fürs Erste bei ihr und ihrer Familie zu wohnen. Übermütig griff sie nach meiner Hand. »Komm, ich zeige dir dein Zimmer.«

George hatte nicht übertrieben. Noch nie zuvor hatte ich einen Raum gesehen, der so liebevoll auf einen Gast vorbereitet worden war. Auf mich warteten neben einem bunten Blumenstrauß ein Obstkorb, etwas Schokolade und eine Flasche Wasser. Durch die geblümte Bettwäsche, die vielen Kissen, den bequemen Sessel mit Fußhocker und die luftigen Gardinen wirkte das Zimmer so heimelig, dass ich mich schon jetzt wohlfühlte. Ich griff nach der bunten Packung auf dem Nachttisch. »Meine Lieblingskekse! Die habe ich seit meiner Abreise nicht mehr gegessen.« »Genau deshalb hab ich sie dir besorgt.«

»Es war doch nicht nötig, dass du dich meinetwegen so ins Zeug legst.«

Sie winkte ab. »Es hat mir Spaß gemacht.«

»Glaub ihr ruhig, es ist die Wahrheit«, bestätigte George, und die Kinder, die nacheinander ebenfalls ins Zimmer gekommen waren, nickten eifrig. Überschwänglich umarmte ich Christy. Dabei fiel mein Blick auf ein Regal. Dort hatte sie Bilder unserer Familie aufgestellt. Meine verstorbenen Eltern sahen mich an, ebenso wie mein Bruder Billy, den es nach Kanada gezogen hatte. Christys Eltern, die in Wisconsin lebten, sowie ihre beiden Schwestern und natürlich Christys eigene Familie: Sie selbst, George, Emma, Tommy und Sandy. Alle fünf standen nebeneinander auf der Veranda und lachten fröhlich in die Kamera. Georges Arm lag um Christys Schultern, sie schmiegte sich an ihn. Eine rundum glückliche Familie. »Wir lassen euch zwei dann mal allein«, sagte George, scheuchte die Kinder hinaus und schloss die Tür.

»Mir scheint, du hast dein Glück gefunden«, sagte ich mit einem Kloß im Magen. Christy kam näher und umarmte mich von hinten. Genau wie früher schien sie sofort zu spüren, was in mir vorging.

»Du wirst deines auch noch finden, Kleines«, sagte sie sanft. Obwohl nur vier Jahre älter als ich betitelte sie mich häufig so, auch in ihren Briefen. Ich widersprach nicht, denn im Grunde mochte ich diese Anrede. Sie ließ mich los und zog mich zum Bett hinüber. Wir setzten uns. »Also, was hast du als Nächstes vor?«, wollte sie wissen.

»Ich werde mir einen Job suchen. Als Übersetzerin, Lektorin ... was sich so findet.«

»Vielleicht können wir dir helfen. George kennt eine Menge Leute.« Sie machte eine Pause und sah mich mit leuchtenden Augen an. »Sag, wie findest du ihn?«

»Auf den ersten Blick ein echter Volltreffer«, antwortete ich lächelnd. »Sympathisch, gutaussehend ... Wenn er keinen Haken hat, dürftest du eine verdammt glückliche Frau sein.« Sie nickte verträumt. »Oh ja, das bin ich, glaub mir.« Scherzhaft hielt sie mir ihren erhobenen Zeigefinger vor das Gesicht. »Also Finger weg!«

Ich fing ihre Hand ein und lachte. »Keine Angst. Ich gönne dir dein Glück von Herzen und werde den Teufel tun, dir den Mann auszuspannen. Dann könnte ich ja nie mehr in den Spiegel schauen.«

»Tatsächlich? Ich sage nur Steve. Seinetwegen hätten wir uns beinahe zerfleischt.«

»Das ist zum einen mehr als zehn Jahre her und zum anderen war er ein Idiot und ich ein dummes Gänschen. Vertrau mir, ich bin erwachsen geworden und freue mich sehr für dich und George.« Ich nahm Christys Hand und drückte sie. »Es tut mir so leid, dass ich bei eurer Hochzeit nicht dabei sein konnte.«

»Dafür bist du jetzt da«, sagte sie und erhob sich. »Nun mach es dir gemütlich und ruh dich ein wenig aus. Um sechs essen wir.«

Ein Abendessen im Kreise dieser Familie entpuppte sich als eine unterhaltsame und vergnügliche Angelegenheit. Alle plauderten durcheinander, es wurde gescherzt und gelacht. Amüsiert lauschte ich den Gesprächen und Neckereien, während ich mir Christys Hacksteaks mit Kartoffelpüree und Erbsen schmecken ließ. Sie war von uns beiden schon immer die bessere Köchin gewesen. Als alle satt waren, schaute George auf die Uhr und verzog bedauernd das Gesicht. »Ich muss los«, sagte er, und stand auf. »Wohin?«, fragte ich.

»Daddy hat einen Flug«, erklärte Tommy altklug und schob sich einen Bissen Püree in den Mund.  Richtig, Christy hatte in einem ihrer Briefe erwähnt, dass George Pilot war.  »Wohin geht es?«, fragte ich.

»Los Angeles und Dallas. Morgen früh bin ich wieder da.«

Christy stand auf, legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn. »Sei vorsichtig.« »Bin ich doch immer«, erwiderte er mit einem liebevollen Lächeln. Fünf Minuten später hörten wir seinen Wagen aus der Auffahrt rollen.

Chaos der GefühleWhere stories live. Discover now