EINS

36.4K 2.7K 142
                                    

Ich hätte die Finger vom verfickten Alkohol lassen sollen. Hätte ich Sonntagabend nichts getrunken, hätte ich Montagmorgen beim Ausdauerlauf nicht auf die Bahn kotzen müssen. Ich wäre nicht wie eine sterbende, aber durchaus gutaussehende Katze stehen geblieben, die Hände auf die Knie gestützt und würgend. Mein Lehrer wäre nicht zu mir gekommen, hätte nicht das Glas zu viel gerochen, neben dem Gestank von meinem Erbrochenen, und er hätte mich nicht in die Umkleide geschickt. Er hätte mir nicht gesagt, ich solle nach Hause gehen und meinen Rausch ausschlafen, und er hätte mir auch keine null Punkte gegeben, der Penner. Ich wäre nicht in die Umkleide gegangen und hätte nicht meine Sachen geholt. Ich wäre nicht eine Stunde später über die Straße gegangen, und ich wäre nicht von dem schwarzen Audi angefahren worden. Mein Kopf wäre nicht auf die Windschutzscheibe geknallt, mein Schädel hätte das Glas nicht zum Bersten gebracht. Ich wäre nicht zwei, nein, drei Meter durch die Luft geschleudert worden und auf dem Asphalt gelandet. Da wären keine beschissenen Hirnblutungen entstanden. Ach so, das wäre übrigens auch nicht passiert, wenn der Pisser keine verdammten achtzig, sondern dreißig Stundenkilometer gefahren wäre. Zumindest hätte ich vielleicht überlebt. Möglicherweise. Ach, weiß der Geier. Ich werde nie wieder Alkohol trinken. Zumindest, wenn es im Himmel keinen gibt. Kann sonst, ehrlich gesagt, nichts versprechen. Obwohl, kommen nicht eigentlich nur die Guten nach oben? Wo komme ich denn dann hin? Und was ist das hier für eine Freakshow? Ich brauch dringend 'n Kurzen. Oder ganz viele Kurze. 'Ne Flasche Wodka wäre gut.

Hey, da bin ja ich. Da unten. Verdammt, der hat mich echt übel zugerichtet. Und das hier ist doch wohl ein Witz. Ernsthaft, ich schaue doch gerade nicht wirklich auf mich selbst herab, oder? Kommt schon, das ist doch wohl ein Witz. Obwohl ich sagen muss, dass ich trotzdem noch verdammt gut aussehe. Also wenn man jetzt mal von dem Blut absieht und der Tatsache, dass mein Kopf ... Ach du Scheiße, habe ich wirklich einen eingedrückten Schädel? Wie behindert ist das denn? Wieso kann ich nicht so sterben, wie ich gelebt habe? Also hübsch. Wieso muss mir das jetzt alles versaut werden? Das ist echt nicht witzig. Obwohl, könnte auch einfach 'ne optische Täuschung sein. So von der Frisur her. Und dem Blut. Ich wusste gar nicht, dass ich davon so viel habe. Da läuft verdammt viel aus mir raus. Ist ja eklig. Gut, machen wir uns nichts vor, ich sterbe mit einem unförmigen Kopf. Vielleicht war das ja schon immer so, und ich habe das einfach nie gesehen. Nein, ziemlich unwahrscheinlich. Das wäre mir aufgefallen. Ah, der Sack, der mich umgebracht hat – nicht der Alkohol –, steigt auch endlich aus. Ach was, eine Frau? Weiber am Steuer, das kann ja nicht gut gehen. Was guckt die denn jetzt so fassungslos? Ist das so überraschend, dass ich die Scheiße nicht überlebt habe? So wie die Fotze gerast ist, ist das ja kein Wunder. Sie beugt sich zu mir herunter und berührt mich an der Schulter. Okay, egal, was das hier ist, so supercool und abgefahren ist es auch nicht, denn ich spüre das nicht. Also ihre Finger an meinem Gesicht. Das ist jetzt enttäuschend. Aber irgendwas passiert. Keine Ahnung, was, aber irgendetwas passiert ... Bisher bin ich auf einer Stelle geschwebt, nun steige ich höher. Das war's dann wohl. Irgendwie ziemlich unspektakulär. Sollte mein Leben mal verfilmt werden, braucht die Szene echt 'ne gute Hintergrundmusik. Das wirkt ja sonst gar nicht. Dass ich ziemlich gut aussehe, reicht denen im Fernsehen ja nicht. Offensichtlich komme ich doch nicht in den Himmel. Es wird nicht hell, sondern dunkel. Verdammte Scheiße.

Die Hässlichen (LESEPROBE)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt