19 Tage und ein Atemzug

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„Ich erwarte dich!"

Drei Worte die es mir zuflüsterte, drei Worte die meine Welt veränderten, die mich veränderten. Ich weiß nicht wer oder was da mit mir gesprochen hatte, aber eines ist sicher: dieses Etwas war ganz und gar nicht gut.

Ich schreckte auf. Ein paar Minuten lag ich reglos und mit geschlossenen Augen im Bett, nur ein leises Piepsen erfüllte den kahlen Raum. Ich versuchte mich zu bewegen, aber weder konnte ich meine Augen öffnen noch aufstehen. Kein Muskel folgte meinen Anweisungen, einzig und allein meine Organe schienen zu funktionieren.

Plötzlich hörte ich wie jemand den Raum betrat. Die Schritte kamen näher und näher und verstummten schließlich direkt neben mir. Schon von weitem hörte ich jemanden aufgebracht meinen Namen rufen: „Liana! Ich muss zu ihr! Lassen Sie mich endlich zu ihr!" „Sie können hier nicht einfach rein! Sind Sie verwandt mit dieser Frau?" „Sie ist meine beste Freundin! Lassen Sie mich endlich durch!" Kurze Stille, neben mir entfernten sich die Schritte wieder.

Kurz darauf hörte ich eine Tür gegen die Wand knallen und schnelle Schritte auf mich zu kommen. Links neben mir sank das Bett ab, jemand muss sich hier hin gesetzt haben. Plötzlich berührte eine kalte Hand die meine, aber ich konnte mich immer noch nicht bewegen. „Was ist nur passiert? Warum tust du mir das an, hm?", flüsterte die Stimme, die ich kurz vorher noch im Gang brüllen gehört hatte. Jetzt erkannte ich auch wer da mit mir sprach: Tarik, mein bester Freund...auch wenn ich wünschte wir wären mehr.

Wieder hörte ich Schritte, aber Tarik saß weiterhin ungerührt neben mir und streichelte meine Hand. „Was ist mit ihr? Wann wacht sie auf?", fragte er eine andere Person. „Miss Quest wurde mit starken Erfrierungen in der Nähe des Flusses gefunden. Bewusstlos. Wir wissen leider nicht wann sie wieder aufwacht..." Die andere Person, es schien ein Arzt zu sein, machte eine kurze Pause und sagte dann leise: „Oder ob sie überhaupt wieder aufwacht. Seit gestern liegt sie hier im Koma. Sowohl Atmung als auch Herzschlag werden nur noch von Maschinen ausgeführt." Wieder war es still im Raum. Auch ich musste das erst einmal verarbeiten.

Ich konnte mich weder daran erinnern wo ich war und was ich gemacht habe bevor ich hier her kam, noch konnte ich glauben, dass ich im Koma liegen sollte..seit einem Tag oder einer Nacht! Ich meine..ich bekam alles mit, hörte die Stimmen, roch und schmeckte das Desinfektionsmittel das nur in Krankenhäusern so präsent in der Luft lag. Wieder versuchte ich mich zu bewegen um dem Arzt und meinem besten Freund zu zeigen, dass es mir gut ging. Doch ich konnte nicht. Und so verging auch dieser Tag.

Irgendwann schlief ich ein und träumte wieder von dieser Stimme: „Ich erwarte dich!" In einem Rauschen verklang sie wieder und ich wachte auf, weil ich glaubte einen Luftzug gespürt zu haben. Angespannt lauschte ich in die Stille hinein. Erst geschah nichts, doch dann hörte ich ein bedrohliches Zischen. Ich riss meine Augen auf und starrte direkt in ein bleiches und vernarbtes Gesicht. Der Schrei blieb mir in der Kehle stecken, da ich merkte, dass mir die Luft zum Atmen fehlte. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: das Zischen kam von einem der Schläuche die mich atmen ließen!

Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte ich weiter stumm in das Gesicht des Anderen und rang um Luft. Mit einem Mal strömte der Sauerstoff explosionsartig in meine Lungen und gierig nahm ich Atemzug um Atemzug. Fast hatte ich die Person  über mir vergessen, aber nach 19 mal Einatmen bekam ich wieder das Gefühl keine Luft zu bekommen. Langsam wurde mir schwarz vor Augen und das letzte was ich mitbekam war die Stimme, die sagte: „19. Ich erwarte dich!"

Am nächsten Morgen wachte ich wieder auf, aber scheinbar lag ich immer noch im Koma, denn die Maschinen piepsten und kein Muskel rührte sich auf meine Anweisung hin. Ich erinnerte mich wieder an die letzte Nacht und mir lief ein Schauer über den Rücken. War ich wirklich nur knapp dem Tod entronnen? Wer war das in meinem Zimmer und warum war ich für diese Zeit nicht im Koma? Außerdem was hatte das Ganze mit der Zahl 19 zu tun? Ratlos und verwirrt ließ ich meine Gedanken wieder in eine schönere Richtung schweifen. Bis zum Abend verlief der Tag ziemlich ruhig. Die Ärzte kamen rein um nach mir zu schauen und die Geräte zu überprüfen und inzwischen war ich mir sicher, dass das schaurige Ereignis nur ein Alptraum war, denn mit den Geräten schien alles in Ordnung zu sein.

Ich schlief auch an diesem Tag wieder relativ gut ein, auch wenn ich den ganzen Tag nichts zu tun hatte. Im Koma liegen war halt doch echt langweilig. „Ich erwarte dich!" Wieder dieser Satz. Schon das vierte Mal in zwei Tagen. Plötzlich hörte ich wieder ein Zischen und merkte wie ich immer weniger Luft bekam. Aus Angst das Gesicht der letzten Nacht wieder vor mir zu sehen, zwang ich mich meine Augen geschlossen zu halten. Doch irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und riss sie auf. Und da war es wieder: das bleiche, vernarbte Gesicht. In dem Moment konnte ich wieder Atmen, doch diesmal waren es nur noch 18 Atemzüge bis das erdrückende Gefühl der Bewusstlosigkeit durch Sauerstoffmangel einsetzte.

Das letzte was ich mit bekam waren nur noch die Worte der Person über mir: „18. Ich erwarte dich!"

Auch am nächsten Morgen wachte ich wieder ganz normal auf. Es war ein Countdown! Immer weniger eigene Atemzüge. Nur noch 17 Tage. Doch was sollte dann geschehen? Sollte ich sterben?

Um mich herum spielte alles ganz normal, so wie die letzten Tage auch. Aber in mir tobte ein Sturm aus Gefühlen und Gedanken. Was konnte ich nur tun um den Countdown zu stoppen, um endlich aus diesem Koma zu erwachen und das nicht nur für ein paar Minuten mitten in der Nacht. Ich fühlte mich allein und hilflos, denn ich konnte niemandem davon berichten, niemanden um Hilfe bitten. Wie gern wäre ich einfach aufgesprungen und hätte Tarik mein Herz ausgeschüttet als er mal wieder zu Besuch kam, doch ich konnte es nicht. Ich war machtlos.

Auch die nächsten Nächte verliefen so wie die ersten beiden. Mit jedem Tag wurde es ein Atemzug weniger und meine Zeit knapper. Inzwischen war ich mir sicher, dass ich sterben würde, wenn der Countdown abgelaufen war und ich konnte nichts dagegen tun. Von Tag zu Tag wurde ich ruhiger und fand mich mit diesem Schicksal ab. Ich wartete geradezu darauf, dass die Person mich nachts rief und wieder ein Tag damit enden würde.

Am letzten Tag kam Tarik mich wieder besuchen. Er saß stumm an meinem Bett und ich spürte seinen Blick auf mir. Es war bereits Nacht als ich ihn leise aufseufzen hörte und er meine Hand fester in seine nahm. „Ich liebe dich", flüsterte er direkt vor meinem Ohr. Sein Atem kitzelte mich, aber wie immer konnte ich mich nicht bewegen. Für kurze Zeit hörte ich nur das gleichmäßige Piepsen der Maschinen und das unregelmäßige Atmen von Tarik.

Erst jetzt erreichten die Worte mich wirklich. Ich hatte mir in den letzten Tagen nichts mehr gewünscht als noch einmal mit ihm reden zu können. Ihm sagen zu können was ich für ihn fühlte und jetzt wollte ich es noch mehr.

In dem Moment piepste Tariks Armbanduhr 12 mal. Es war Mitternacht! Mein letzter Atemzug. Die letzte Zahl des Countdowns. Es zischte und ich konnte meine Augen öffnen. Über mir war wieder das bleiche, vernarbte Gesicht. In dieser Nacht wendete ich mich aber Tarik zu, doch der schien nichts davon mitzubekommen. Den Atem anhaltend um meinen letzten Atemzug zu sparen setzte ich mich auf und weckte ihn. Ich musste ihm noch irgendwie sagen, dass ich ihn auch liebe. Er schreckte auf und sah mich an. Schnell nahm ich einen Stift und einen Zettel die auf einem kleinen Tischchen neben dem Bett lagen und schrieb: „ Wenn ich noch zwei Atemzüge hätte, würde ich den einen nutzen, um dich zu küssen und den zweiten um dir meine Liebe zu gestehen - doch jetzt habe ich nur noch einen Atemzug. Den ich hierfür nutze, da es beides gleichzeitig zum Ausdruck bringt."

Ich gab ihm den Zettel und als er ihn gelesen hatte sah er mich verwirrt und fragend an. Ich zog ihn zu mir und legte meine Lippen auf die seinen. Für einen kurzen Moment zögerte er, doch dann erwiderte er den Kuss. Kurz musste ich mich von ihm lösen um Luft zu holen, doch dann vereinte ich unsere Lippen wieder.

Als auch dieser Kuss sein Ende fand lächelte ich ihn sanft und entschuldigend an und legte mich wieder auf mein Kissen. Ich schloss die Augen und wartete darauf, dass die Stimme jetzt wieder kommen würde. Ich lag im Koma: 19 Tage und ich hatte nur noch einen Atemzug, meinen letzten Atemzug. In dem Augenblick kam auch schon die erlösende Stimme:„1. Ich habe dich erwartet."

Ich schreckte auf. Das war mit Abstand der realistischste Alptraum den ich je hatte. Mein Atem ging schnell und mein Herz raste. Ich versuchte meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen und auch mein Herzschlag verlangsamte sich dadurch wieder. Als ich mich wieder beruhigt hatte machte ich meine Augen auf und erschrak...ich blickte direkt in das Gesicht das ich auch im Traum gesehen hatte: In das bleiche, vernarbte Gesicht..

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So meine erste Kurzgeschichte für diesen Contest. Ich hoffe sie gefällt euch. ;)

Wörter: 1559

Schwierigkeitsgrad: Stufe 3

Kurzgeschichten für Kurzgeschichten-Contest von @amnesiawardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt