Kapitel 4 Schmerzhafte Erfahrungen

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Keuchend rannte ich durch die Straßen der Stadt, die sechs Augenpaare stets im Augenwinkel. Warum genau jetzt? Ich war doch nicht so wütend gewesen! Glaubte ich zumindest...
Egal, ich musste mich nur verstecken und es über mich ergehen lassen, dann ist alles wieder vorbei.

Aber wo soll ich hin, dachte ich mir leicht panisch und blickte hektisch um mich. Obwohl ich in einer kleinen Stadt wohnte, konnte man hier auch nicht so easy peasy einen menschenleeren Platz finden.

Hilflos stolperte ich weiter und fuhr mir aufgewühlt durch meine Haare, als ich auf eine Idee kam und schnell mein Handy aus meiner Hosentasche heraus fummelte. Mit schweißnassen Händen suchte ich rasch die Kartenapp heraus und sah mir anschließend meine Umgebung digital über den Satelliten an. Hecktisch vergrößerte ich die Bildfläche und war mehr als nur erleichtert, als ich unweit von meiner Position ein größeres Stück Wald entdeckte. Jetzt musste ich es nur noch rechtzeitig dorthin schaffen, dachte ich mir zweifelnd und blickte nervös zu den pechschwarzen schwebenden Augen.

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Im Nachhinein kann ich mich kaum noch daran erinnern, doch irgendwie schaffte ich es die halbe Stunde im Bus zu fahren, ohne mich zu verwandeln. Doch dafür stieg meine Unruhe ins unermessliche.
Mein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung und Konzentration, dass ich mich hier und jetzt nicht verwandelte und fast hätte ich sogar meinen Stop verpasst. Doch gerade noch im richtigen Moment drückte ich den Knopf zum Halten und stolperte mit schwerem Atem aus dem Bus knirschend auf den Kies der Busstation.
Sofort überkam mich zusätzlich noch eine furchtbare Übelkeit und ich konnte mich kaum noch auf meinen Beinen halten und stützte mich vornübergebeugt keuchend auf meine Oberschenkel.
Dabei verspürte ich wenigstens kurz ein bisschen Erleichterung, als ich mühsam meinen Kopf hob und sah wie der Bus mit rauchendem Auspuff weg fuhr und sich die Rücklichter von mir entfernten, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war.

Nun gibt es nur noch mich, dachte ich mir erleichtert, war aber gleich wieder auf dem Boden der Tatsachen. Ich musste weiter.

Also schob ich mir meine Haare, die auf meinem schweißnassen Gesicht klebten, aus meiner Sicht und drückte mich von meinen Oberschenkeln weg, zurück in eine stehende Position. Das war mein erster Fehler gewesen.

Gerade noch waren die Augen eine halbe Armlänge von mir entfernt gewesen, doch als ich erschrak, wie nah sie mir nun gekommen waren, verlor ich meine Konzentration.
Wie ein Raubtier, welches auf diesen Moment nur gewartet hat, sprangen sie näher an mich heran, sodass gerade noch meine Hand zwischen sie und mir gepasst hätte.

„Nein!", rief ich ungewollt aus und stolperte zurück. Ich war zwar schon weiter weg von Menschen, aber noch immer auf einer Straße. Ich musste tiefer in den Wald.

Ohne auf Richtungen oder mögliche Wege zu achten, drehte ich mich einfach um und lief in das Dickicht der Bäume. Das war mein zweiter Fehler gewesen, denn ich merkte nicht, dass mir ein Mädchen gefolgt war und mir hinter her rannte.

Doch ich hatte mit anderen Sachen zu kämpfen. Durch das Rennen beschleunigte sich mein Atem noch mehr. Mein Körper erhitzte sich. Mein Blut rauschte in meinen Ohren. Mein Herzschlag verdoppelte sich.

Meine Konzentration sank. Meine Kontrolle verließ mich. Die Augen wollten mich einnehmen. Ich spürte förmlich, wie sie begannen an meiner Haut und meinen Inneren zu reißen. Es schmerzte. Verdammt, es hat doch noch nie so weh getan!
„Aufhören!", keuchte ich mit zusammen gebissenen Zähnen, ohne jemanden damit zu meinen und kam ungewollt zu einem Halt, als mich eine unglaubliche Welle an Schmerz überrannte. Es fühlte sich an, als würden alle Auge wollen, dass ich mich in die jeweilige Kreatur verwandelte.

Meine Beine wollten mich nun endgültig nicht mehr tragen und ich stürzte auf den Waldboden. Voller Schmerzen bäumte ich mich aber dennoch auf, als meine Schulter ohrenbetäubend knackste und ich auf einmal neben mir am Erdboden blutbefleckte golden schimmernde Federn liegen sah.

„Scheiße.", fluchte ich hustend und legte meinen Kopf in den Nacken. Konzentriere dich auf deine Umgebung, nicht auf die Schmerzen, versuchte ich mir noch selbst panisch einzureden, doch da erfasste mich eine zweite Schmerzwelle. Um nicht aufzuschreien und dadurch eventuell noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, biss ich mir auf meine Lippe, selbst als sich der metallischen Geschmack von Blut langsam in meinem Mund ausbreitete.

„Gleich hast du es hinter dir.", murmelte ich mir selbst zu, als ich endlich spürte wie sich mein T-shirt anspannte und endlich unter dem Druck der Federschwingen zerriss. Mit einem lauten Windstoß breiteten sich die doppelt so großen Schwingen hinter mir aus und ragten nun majestätisch dem Himmel empor. Jetzt konnte ich nicht anders und stöhnte voller Schmerzen, doch Erleichterung auf und mein Kopf sackte kraftlos nach unten.

„Na geht doch.", murmelte ich erschöpft und musste unweigerlich lächeln. Doch im nächsten Moment wich es wieder von meinem Gesicht und ich fiel seitlich ohnmächtig zu Boden.

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Das kommt davon, wenn man sich zu sehr weigert sich zu verwandeln, dachte ich mir spöttisch wenige Meter von ihm entfernt und richtete mich endlich von den Büschen auf, hinter denen ich mich versteckt hatte. Je mehr man es hinaus zögert, desto schmerzhafter ist es, das weiß doch jedes paranormale Kind.

„Hättest dich ruhig bisschen beeilen können. Bin hier hinten ganz schön müde geworden.", beschwerte ich mich, obwohl er es sicherlich nicht hören konnte und streckte mich gähnend.

Dann stieg ich elegant und wohlbedacht, dass meine Kleidung nicht hängen blieb, über das Gestrüpp und ging näher zu ihm heran. Da er mir den Rücken zugekehrt hatte, ging ich um seine riesigen Engelsschwingen herum, damit ich nun direkt vor seinem Gesicht stand. Interessiert sah ich ihn mir an.

Sein Körper lag halb auf seinen Schwingen und wirkte dadurch komischerweise sehr klein und fragil, während sein blaues T-shirt gerade noch seinen Bauch bedeckte und der Oberkörper vollkommen frei lag und teilweise mit Erde verdreckt war. Ebenfalls lagen einzelne blutige Federn um ihn verteilt und färbten den Waldboden punktuell dunkelbraun. Mein strenger Blick wanderte weiter zu seinem Gesicht und mir fiel auf, dass seine blonden Haare längst nicht mehr perfekt waren und auf seiner schweißnassen Stirn klebten. Zusätzlich war seine Lippe an einer Stelle aufgeplatzt und Blut klebte noch immer an ihr.

Ohne es zu wollen verzog ich mein Gesicht und ich konnte nicht ganz sagen warum, aber er tat mir auf einmal schrecklich leid.
Von meinen Gefühlen überrannt, kniete ich mich mitleidig neben ihn, aber nicht ohne zuvor aufmerksam um mich zu sehen, um nachzusehen, ob diese blöde Tara oder jemand anderes uns nicht gefunden hatte. Wenige Zentimeter vor seinem Körper starrte ich unschlüssig auf sein ruhendes Gesicht und zum ersten Mal seit Jahren überkamen mich Schuldgefühle.

Er ist eindeutig vollkommen unbedarft mit seinen paranormalen Fähigkeiten und ich hatte ihn so weit getrieben. Ich hätte das Wissen müssen und ihn diskreter behandeln sollen. Gerade ich, sollte doch am besten seine Schmerzen kennen und verstehen, dachte ich mir mitleidig.

Reuevoll biss ich mir auf meine Lippe und versunken in meinen Gedanken beugte ich mich nach vorne und streckte meine Hand aus, um ihm sanft einer seiner Haarsträhnen aus dem Gesicht zu schieben.
Etwas drängte in mir, dass ich das Blut auf seiner Lippe ebenfalls wegstrich, doch da durchfuhr es mich wie ein Blitz und meine Hand blieb wenige Zentimeter über seinem Gesicht hängen.

Was tue ich da?, fragte ich mich panisch und zog schnell meine Hand wieder zurück.

Wie, als wäre er auf einmal ein ekelerregendes Insekt rutschte ich sofort weg von ihm und richtete mich ungeschickt hektisch auf. Sofort versuchte ich wieder emotionale Distanz zwischen uns aufzubauen und dachte mir streng, dass er nur ein blöder weiterer Auftrag und doch selbst Schuld war, wenn er von seiner paranormalen Seite nicht mehr wusste.

Wütend über mein unsinniges Verhalten schüttelte ich meinen Kopf und zischte mit knirschenden Zähnen:"Reiß dich zusammen.".
Ob ich damit mich oder ihn meinte, wusste ich selbst nicht.

Broken AngelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt