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Lea Pov

Meine Chefin Mathilde sah mich müde an, lächelte aber liebevoll. Schuldbewusst trottete ich, wie ein begossener Pudel, der nun ausgeschimpft würde, zu ihr und stellte mich ihr gegenüber hin. Aus Angst vor dem, was jetzt kommen würde, sah ich ihr nicht in die Augen und starrte dagegen betreten auf meine Hände, die ich bereits aus lauter Nervosität angefangen hatte zu kneten. Eine meiner langen blonden Strähnen fiel über meine Schulter und obwohl sie mich sehr störte, beförderte ich sie nicht an ihren alten Platz zurück, da ich mich nicht bewegen wollte. Eigentlich wollte ich auch nicht hier sein, mich am besten einfach in Luft auflösen. Warum sagte Mathilde denn auch nichts? Diese angespannte Stille, die nun bestimmt schon seit mehreren Minuten herrschte, machte mich echt fertig. Und dann hörte ich ein Schluchzen. Ich hob meinen Kopf an und sah in Mathilde's Schmerzverzerrtes Gesicht. Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, überwand ich den restlichen Meter zwischen uns und nahm sie in den Arm. Ich mochte Mathilde, doch ich hatte sie noch nie in den Arm genommen, weshalb ich hoffte, sie würde meine Reaktion nicht als unangemessen oder unangenehm empfinden. Doch sie stand einfach genauso da wie sie auch davor gestanden hatte und weinte unerbittlich. Sachte streichelte ich den Rücken, um sie zu beruhigen. In mir herrschte immer noch Panik, aber diesmal, weil ich nicht wusste, was mit ihr los war und ich keine Ahnung hatte, was ich tun konnte. Brauchte sie Hilfe? War etwas schlimmes passiert? War jemand gestorben aus ihrem Bekanntenkreis? Hatte sie vielleicht selber sogar eine Krankheit?
Diese und weitere Fragen schwirrten, komplett zusammenhangslos, in meinem Kopf herum. Minuten verstrichen in denen ich stumm, die weinende Mathilde in meinen Armen hielt und ihr weiter über den Rücken strich. Was sollte ich auch sonst tun?
Irgendwann schien sich Mathilde zu beruhigen und ich ließ sie los.
"A-alles okay?", fragte ich sie vorsichtig, während ich ihr verheultes Gesicht betrachtete, nur für den Fall sie könnte erneut in Tränen ausbrechen. Ihr Schminke war durch den Tränenfluss etwas mitgenommen, aber ansonsten schien es ihr besser zu gehen.
"Ja... Also eigentlich nein. Ich wollte es dir eigentlich nicht direkt sagen. Aber ich hatte auch nicht geplant einfach so vor dir in Tränen auszubrechen. Du musst jetzt ziemlich verwirrt sein, nicht?", sagte sie dann mit einigermaßen fester, aber leiser Stimme und schaute mich aus traurigen Augen an.
"Z-ziemlich...", meinte ich nur und stand immer noch dumm in der Gegend rum, nur für den Fall, dass ihre Stimmung gleich wieder komplett sinken würde und ich sie erneut trösten müsste. Allerdings enspannte ich mich ein wenig, da sie wieder stabiler geklungen hatte.
"A-also...", begann Mathilde nun ihre Erklärung, "Wie du weißt habe ich eine Tochter, die etwa in deinem Alter ist." Ich nickte.
"Sie wohnt nicht mehr bei mir, sondern ist mit ihrem Freund in eine andere Stadt gezogen. Nunja und genau diese hatte..." Mathilde unterbrach sich mit zitternder Stimme und sog mehrmals tief sie Luft ein, "Sie hatte einen Unfall. Und nun ja. Die Ärzte.. Sie sagen, dass sie die Verletzungen nicht überleben wird und geben ihr noch eine Woche... höchstens. Und  deshalb fahre ich für ein paar Tage zu ihr. Und in der Zwischenzeit schließe ich das Cafe. Ich weiß nicht für wie lange, aber ich werde dich auf dem laufenden halten." Mathilde liefen erneut Tränen die Wange herunter und auch bei mir sammelten sich diese nun in den Augen. Behutsam strich ich Mathilde über den Arm, ihne auch nur ein Wort zu verlieren. Was sollte ich auch sagen... Ich konnte sie wohl kaum versuchen jetzt aufzumuntern, wenn ihre Tochter gerade dabei war zu sterben. Ich konnte nichts tun, außer zu hoffen, dass Mathilde dies alles gut überstehen würde.

Ich war eine weitere halbe Stunde bei Mathilde geblieben und sie hatte mir noch ein paar Details erzählt, bevor ich dann letzendlich das Cafe verlassen hatte und zu meinem Rad gegangen war, um mich endlich auf den Heimweg zu machen. Auf dem Rückweg, grübelte ich die ganze Zeit über Mathilde's Tochter. Ich fand es sehr traurig, dass sie sterben würde... Immerhin war sie kaum älter als ich. Und auch wenn mein Leben vielleicht kein Traumleben gewesen war, würde ich es schrecklich finden, so früh sterben zu müssen. Es gab so viele Dinge, die ich noch erleben wollte... Plötzlich wurde ich zurück gezogen und durch die Wucht leicht nach hinten gerissen.Ich hatte Angst, dass ich nun auch einen Unfall erlitten hatte wie Mathildes Tochter und wartete aif de  Aufprall mit dem Boden, doch ich saß noch... Was zur Hölle? Ich drehte mich, da ich dort den Auslöser für diese abrupte Bremsung vermutete und tatsächlich befand sich dort ein komplett schwarz gekleideter und vermummter Junge, der mein Fahrrad am Sattelträger festhielt und mich aus dunklen, unergründlichen Augen anstarrte. Aufgrund des mittlerweile vorgeschrittenen Abends und seiner Klamotten, ordnete mein Gehirn diesen Typ in die Kategorie 'gefährlich' ein und meine Hand reagierte schneller, als sie es normalerweise getan hätte. Aber auch als ich den Jungen geschlagen hatte, lies dieser nicht los, sondern fing an zu lachen.
Das funktionierte also nicht. Neuer Plan...
Ich sprang vom Rad, um ihm dieses dann sofort mit aller Kraft gegen das Bein drücken zu können. Danach wollte ich rennen. Einfach weg hier! Direkt vor mir bemerkte ich eine dicht befahrene Straße, weshalb ich schon dabei war abzubiegen, um nicht in die Autos auf der Straß zu rennen. Doch der Vermummte war verdammt schnell und hielt mich am Handgelenk fest. Ich versuchte mich von seinem festen Griff zu befreien. Aber er ließ nicht locker. Aus Angst diesem Typ nicht entkommen zu können, sammelten sich Tränen in meinen Augen und ich wollte schon anfangen um Hilfe zu schreien.
"Und bist du nun all deine Wut von vorher losgeworden?", fragte der Unbekannte hinter mir. Ich wirbelte herum und da grinste mir doch tatsächlich dieses arrogante Arschlosch von vorhin entgegen. Wieder reagierte meine Hand schneller, als ich es unter anderen Umständen für möglich gehalten hätte und der Typ fing sich erneut eine. Der Typ hielt mich jedoch immer noch fest.
"Lass mich los...", fauchte ich ihn an. Doch der Typ starrte mich nur mit einem undeutbaren Blick an, welcher mir irgendwie einen Schauer über den Rücken jagte.
Er war nicht brutal, nicht agressiv und ließ auch nicht darauf schliessen, dass er mir was antun wollte. Aber er war irgendwie... voller Schmerz? War es das oder interpretierte ich da was Falsches? Ich versuchte erneut mich von seinem Griff zu befreien. Und anstatt mich weiter festzuhalten stieß er mich nun von sich, drehte sich dann um und ging einfach. Ich rappelte mich auf.
"Hey", schrie ich ihm hinterher, "Was läuft falsch bei dir? Was sollte das?" Doch er blieb nicht stehen.
"Was habe ich dir getan, du Mistkerl?", schrie ich ein letztes Mal. Und tatsächlich hielt er augenblicklich inne, drehte sich kurz um, um mich mit dem selben merkwürdigen Blick zu mustern. Kurz darauf drehte er sich dann aber wieder um und ging mit schleifenden Schritten, langsam weiter.
Also ernsthaft, was lief bei dem bloß falsch. Warum hat der mich einfach so aus voller Fahrt gebremst? Was fällt dem ein, ich mein, was hätte da nicht alles passieren können? Als ich mich dann aber zu meinem, am Boden liegenden Rad begab und erneut die große, dicht befahrene Straße direkt vor mir bemerkte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Als ich vorhin so in Gedanken versunken gefahren war, hatte ich diese nicht bemerkt. Ich war direkt auf sie zu gerast, weil meine Gedanken wo anders gehangen hatten. Und er hatte das gesehen und hat mich aufgehalten, bevor auf die Straße gerast war... War das tasächlich sein Ziel gewesen? Ich fühlte mich plötzlich so schlecht, dass ich ihn angeschrien hatte und ihn 'Mistkerl' genannt hatte... Aber warum hat er dann nichts gesagt? Warum hat er es mir nicht einfach erzählt, sondern hat sich einfach umgedreht und ist gegangen? Hat ihn meine Backpfeife so sehr verletzt? War dass der Ausdruck in seinen Augen: Verletzung? Sollte ich ihm hinterher? Ich schaute in die Richtung, in die er gegangen war und meinte, ihn dort ausmachen zu können. Also schwang ich mich auf meine Rad und radelte auf die Gestalt zu, die ich für ihn hielt. Beim näher kommen, bestätigte sich meine Vermutung.
"Hey, du Typ... Bleib stehen!", brüllte ich in seine Richtung. Entweder hörte er mich nicht, wollte mich nicht hören oder interessierte sich schlicht weg nicht für die Person, die da gerade rief, denn er lief einfach weiter. Ich legte mich noch mehr ins Zeug und war froh, dass sich sonst niemand auf dem Gehweg befand den ich hätte umrasen können. Vor ihm kam ich zum Stehen. Nicht gerade elegant, but who cares.
"Ich sagte: Stop!", schnaufte ich, wegen der wilden Fahrt gerade um Atem ringend. Doch er ignorierte mich und lief einfach, den Blick zu Boden gesenkt, an mir vorbei, so als ob das alles nichts mit ihm zu tun hätte. Verwirrt sah ich ihm hinterher.
Ich weiß nicht nicht was ich erwartet hatte... Dass er anhielt und wir eine Konversation hätten, in der wir all die Missverständisse und anderen komischen Sachen von heute klärten? Vielleicht... Aber vermutlich hatte ich den komischen Fremden, der, mit größter Wahrscheinlichkeit, bald mein Kollege sein würde, ziemlich verletzt, als ich ihn geschlagen hatte, obwohl er mir eigentlich das Leben gerettet hatte. Was ja auch verständlich ist! Aber genau deshalb wollte ich das Missverständnis ja aus dem Weg schaffen...
"Es tut mir leid und Danke!", brüllte ich ihm, beide Händen zur Verstärkung an den Mund legend, hinterher. Ich wartete noch auf eine Reaktion. Doch es passierte nichts und er lief einfach weiter. Ich hatte es wenigstens versucht.

ParasiteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt