Kapitel 1

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Das Foto in meinen Händen überzog ein gräulicher Schatten, als ich in das lächelnde Gesicht meiner Schwester schaute, das hinter dem aufkommenden Tränenschleier vor meinen Augen zunehmend verblasste. Keeley war die Sorte Mädchen gewesen, die alles bekommen hatte, ohne viel dafür zu tun zu müssen. Auch hatte sie alles abbekommen, um einen Menschen als perfekt bezeichnen zu können. Ihre langen Beine, die bis in den Himmel gereicht hatten und ihr schimmerndes, honigblondes Haar, das bis zum unteren Teil ihres Rückens gereicht hatte. Als Anführerin der Cheerleaderinnen war sie der Mittelpunkt der Schule gewesen. Ein Mädchen mit eigener Clique, dem zusätzlich sämtliche Männerherzen zugestanden hatten. Und da war es nicht verwunderlich gewesen, dass sie sich ohne große Mühe den Quarterback und heißesten Typen der Highschool, Carter Jamison geangelt hatte. Nach der Schule hätte sie als Model problemlos ihren Lebensunterhalt verdienen können und wäre mit ihrem Zahnpastalächeln nicht mehr von Covern großer Modezeitschriften wegzudenken gewesen. Aber es war anders gekommen.

»El?« Es klopfte an meiner Zimmertür und ich zuckte erschrocken zusammen. Wenig später spähte meine Mum durch den Türspalt. »Kommst du bitte nach unten.«

Ich schluckte und stellte das einzige Foto, was sich von meiner Schwester in meinem Zimmer befand, zurück ins Regal. Die einzige Ähnlichkeit, die zwischen uns beiden bestanden hatte, war unsere Augenfarbe gewesen. Nur war mein Rehbraun hinter mindestens zwei Zentimeter dicken Brillengläsern weggesperrt. Allein beim Gedanken gleich sämtliche oberflächliche Gespräche mit fremden Leuten zu führen, die in meinem Leben sicher noch nie ein Wort mit mir gewechselt hatten, war mir zum Heulen zumute. El, reiß dich zusammen, ermahnte ich mich. Anschließend streifte ich den mitternachtsschwarzen Rock glatt und folgte widerwillig meiner Mum nach unten.

»Oh es ist einfach so schrecklich, mein größtes Beileid. Keeley ist so ein großartiger Mensch gewesen«, wurde ich sofort abgefangen, als mein rechter Fuß die unterste Treppenstufe erreicht hatte.

Vicky, eine Freundin meiner Schwester schaute mich bedrückt an und schniefte. Sie war ebenfalls eines der Mädchen, das sich jede Woche die Fingernägel in einer neuen Trendfarbe lackieren ließ und mit vollbepackten Einkaufstüten im Auto ihres Dads durch die Shoppingstraßen cruiste. Sie legte ihren Arm um mich, so als wären wir irgendwie Freundinnen gewesen, was aber sicherlich nicht stimmte. Als Keeley noch lebte, hatte sie mich nie wirklich beachtet. Verlegen, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, zupfte ich an dem Anhänger meiner Kette, die um meinen Hals baumelte.

»Sie wird mir so fehlen«, jammerte Vicky weiter. Ich konnte nicht verhindern, dass das schlechte Gewissen an meinem Rocksaum zu nagen anfing, da ich am heutigen Tag noch nicht wirklich viele Tränen vergossen hatte. Das sollte nicht heißen, dass mir meine Schwester egal gewesen wäre. Nein. Unser Verhältnis war schwierig gewesen. Sie war schwierig gewesen. Und eine enge, schwesterliche Bindung aufzubauen, war uns nie wirklich gelungen. Und dafür war es jetzt auch zu spät.

»Hey, Sweety.« Mein Dad kam in einem schwarzen Anzug gekleidet auf mich zu. Seine verquollenen Augen zeugten davon, dass er geweint hatte.

»Hey Dad«, brachte ich hervor und bekam die Möglichkeit Vickys Klammergriff zu entfliehen, die das Vater-Tochter-Gespräch nicht stören wollte und sich anderweitig nach Menschen umschaute, die sie umarmen konnte.

»Wie geht es dir?«, fragte er und ließ sich auf der Treppenstufe nieder. Er streckte seine langen Beine aus und bedeutete mir, mich auf seinem Schoß zu platzieren. »Komm her El.«

»Ist schon okey, irgendwie«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Die Situation, dass meine Schwester seit dreizehn Tagen tot war, hatte uns alle wie aus dem Nichts getroffen. Der Anruf der Polizei vorletzte Sonntagnacht, hatte meine Eltern wie ein Schlag getroffen. Besonders Mum. Keeley war sozusagen ihr Projekt gewesen. Mum war ständig beim Cheerleader-Training gewesen und hatte meine Schwester in sämtliche Beauty-Salons geschleppt. Mich hatte Mum erst ein einziges Mal mit in eine dieser Schönheitsfabriken mitgenommen. Den Visagisten hatte es alles abverlangt mich genauso herzurichten, damit ich Keeley in irgendeiner Weise geähnelt hätte. Meine lockigen Haare hatten sich weder mit Glätteisen, noch durch das gute Zureden des Stylisten auch nur ansatzweise wie Keeleys perfekte Haarpracht verhalten. Und ich glaubte an diesem Tag hatte Mum dann auch endlich eingesehen, dass ich keine Zwillingskopie meiner Schwester war. Seitdem hatte sie mich in dieser Sache in Ruhe gelassen.

The Girl Behind the GlassesWhere stories live. Discover now