Die verschwundenen Liebesbriefe des Michel Saulant

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Folgende Kurzgeschichte entstand für die Einwortchallenge von limea_delune. Das Thema im Februar lautete "Liebesbrief".

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Es waren einige Monate vergangen, seit ich Michel Saulant kennen gelernt hatte. Damals war er mir zuerst in der Bibliothek aufgefallen. Er hatte sich nicht, wie alle anderen, an einen der vielen vorhandenen Tische gesetzt, sondern stand auftrecht, nur leicht an das Regal gelehnt, und las ein Buch in nur einer Hand haltend. Seitdem habe ich nie wieder jemanden kennengelernt, der längere Zeit am Stück so lesen konnte. Ohne sich zu rühren, stand er Stunden, während ich immer wieder von meinen Arbeiten aufsah, aufstand, nach Büchern suchte. Michel hatte immer noch dieselbe Position inne.

In einigen Vorlesungen hatte ich ihn dann auch gesehen und erst als ich bei einem Fallbeispiel nicht mehr weiter wusste, half er mir aus. Fast unmerklich haben wir uns einander zugewandt, automatisch nach den Stunden aufeinander gewartet und sind gemeinsam in die Mensa gegangen. Es war so selbstverständlich vonstatten gegangen und im Laufe weniger Monate waren wir gute Freunde geworden.

Gerade ich, der sich bisher noch nie viel aus Freundschaften gemacht hatte, genoss diese ungebundenen Stunden, in denen wir sprachen und den Studentinnen hinterhersahen. Doch auch Michel hatte nicht viele Freunde und gerade da wir uns in diesem Punkte ähnlich waren, führten wir mit gleichen Vorstellungen diese Freundschaft aus, ohne dass sich einer von uns benachteiligt gefühlt oder gelangweilt hätte.

Im Nachhinein kann ich sagen, dass er eine sehr zarte und zurückhaltende Natur hatte, der jedoch nicht an feingeschliffenen Worten und scharfer Intelligenz fehlte.

Die Studentenjahre verflossen als die schönsten meines Lebens, da ich auch meine Frau Isabelle zu der Zeit traf. Isabelle und ich blieben zusammen, nur meinen Freund Michel verlor ich in den Jahren aus den Augen, obgleich ich ihn immer noch als meinen Freund bezeichnete und er es sicher in gleicher Sicht ebenso hielt.

Was er beruflich trieb, fand ich nie heraus, aber in abendlichen Kreisen mit Geschäftsleuten erzählte ich immer noch gerne die Anekdote von dem lesenden Michel in der Bibliothek.

Eines Abends, die Stunden waren schon fortgeschritten und man war zu den hochwertigen Getränken übergegangen, berichtete ich wieder von seiner Fähigkeit in Regungslosigkeit seine Bücher zu lesen, da erhob sich plötzlich eine Frau im üblichen Kostüm. Ihre Wangen glühten für einen Moment heftiger als zuvor und in ihrem Blick meinte ich eine Erkenntnis flackern zu sehen, die wohl meine Worte ausgelöst hatten.

„Wir haben an derselben Universität studiert, denn ich erinnere mich auch dieses Mannes. Jeden Tag von vier bis sechs habe ich ihn ebenfalls so in der Bibliothek stehen sehen."

Das hatte sie mit solcher Ernsthaftigkeit gesagt, dass die Erzählung, die ich zur allgemeinen Erheiterung immer brachte, ihre Wirkung vollkommen verloren hatte, denn alle Augen waren nun auf ihr doch plötzlich so bleiches Gesicht gerichtet.

„Dann reden wir wohl von demselben Mann", hauchte ich etwas bestürzt. Nach so vielen Jahren jemanden zu treffen, der in unserem Jahrgang, noch dazu an derselben Universität studiert hatte, überraschte und erfreute mich zugleich. Doch auch Frau Casson, wie sie jetzt hieß, hatte keinen Kontakt mehr zu Michel, wusste auch nicht, wo er wohnte.

Durch ihren Kontakt allerdings keimte in mir das Verlangen auf, endlich zu erfahren, was mit meinem guten Freunde geschehen war und wie es ihm jetzt ging. Ich traf aus diesen Gründen Madame C. erneut, die mir versprach, ihrerseits mir einige Geheimnisse zu eröffnen, welche ich, nach ihrer Ansicht, noch nicht kannte.

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