Anfang November 1940

233 8 4
                                    

Kollaboration. Dieses hässliche, grausame Wort hängt wie Giftgas in unserem Wohnzimmer. Verständnislos gaffen wir den Plattenspieler an, Rachelle, Françoise, Yvette und ich. Die heuchlerischen Parolen rauschen in meinen Ohren, immer wieder durchsetzt mit diesem einen Wort, das mein Geist unerbittlich vor sich hinmurmelt: Kollaboration.

Ich starre in die Ferne, mein Blick ist leer. Irgendwann verblassen zwar die Einzelheiten der Rede, aber das Wort Kollaboration hallt dumpf im Takt meines Herzschlags in meinen Ohren wider. Verbittert presse ich die Lippen aufeinander und balle die Hände zu Fäusten, um sie vom Zittern abzuhalten. In diesen Mann haben wir unsere Hoffnungen gesetzt? Ich komme mir schrecklich dumm vor, dumm und naiv. Natürlich wird er kollaborieren, das war abzusehen.

Pétain hat verkünden lassen, dass er Hitler aus freien Stücken in Montoire getroffen hätte. Aber hat er das wirklich? Ist er nicht genauso ein Gefangener der Nazis wie die jungen Männer in den Kriegsgefangenenlagern oder wie die Tausenden von Frauen in diesem Land, die weder ein noch aus wissen? Kann man es ihm verübeln, dass er kollaborieren will, damit die Deutschen die Überbleibsel dieser Nation nicht auch noch dem Erdboden gleichmachen?

Oder ist er nicht viel besser als sie? Ist er ein Verräter seines Volkes? Ich weiß nicht, was ich von Pétain noch halten soll. Ich weiß nur, dass Rachelle mit dem Kauf dieser Schallplatte unser Geld verschwendet hat. Denn sie bringt keinerlei Hoffnung, sondern nur Schmerz und weitere Sorgen. Das Statut des Juifs ist wohl ein Beispiel dafür, wie diese Kollaboration im Einzelnen aussehen wird.

Pétain mag behaupten, dass die Modalitäten der Zusammenarbeit mit den Deutschen noch nicht geklärt seien, doch ich befürchte, dass das eine Lüge ist. Die Modalitäten sind mehr als offensichtlich und man müsste schon blind sein, um nicht zu erkennen, in welche Richtung diese sogenannte Zusammenarbeit mit dem Dritten Reich gehen wird. Kollaboration – im Prinzip nicht mehr als ein schändlicher Euphemismus für die totale Unterwerfung.

Es ist ein kühler Montagabend im November. Zwar ist es tagsüber für diese Jahreszeit noch zu warm, doch dafür wird es umso frostiger, sobald die Sonne untergeht. Die Kälte kriecht durch alle Ritzen des Hauses in unser Wohnzimmer hinein und lässt mich erschaudern. Kohle ist rar und teuer, also müssen wir den Ofen mit alten Zeitungen und Flugblättern beheizen. Es ist besser als nichts, aber so steht auch noch der Gestank von verbranntem Papier in der Luft. Nichtsdestotrotz ist Rachelles und meine Wohnung zum präferierten Versammlungsort unseres kleinen Freundeskreises avanciert – bis auf Yvette fehlt uns allen das Geld, um ständig in Cafés herumzuscharwenzeln und sie hat langsam kapiert, dass die Umstände unsereins nicht so gnädig gestimmt sind wie ihr.

Es ist nun auch Yvette, die sich als Erstes räuspert und versucht, ihre Contenance wiederzuerlangen, weswegen sie ein zuversichtliches Lächeln aufsetzt und sogleich das Wort an uns richtet: „Na ja, Pétain hat es in seiner Ansprache ja gesagt, zumindest bleiben wir souverän. Ohne Armee bieten sich einem ja auch nicht besonders viele Handlungsalternativen."

Eigentlich wurde diese Rede des Maréchal am 30. Oktober übertragen, aber hier in der besetzten Zone dürfen wir kein Vichy-Radio hören. Doch die Regierung war so freundlich, die Rede abzudrucken, aufzunehmen und in der besetzten Zone als Schallplatten zu verbreiten. Rachelle musste unbedingt eine dieser Platten kaufen, als hätte die abgedruckte Version nicht völlig ausgereicht. Aber sie dachte wohl, dass uns das womöglich Hoffnung spenden könnte, denn trotz ihrer sozialistischen Gesinnung hat sie bis gerade eben noch an den französischen Nationalhelden Philippe Pétain geglaubt – so wie es wohl auch ganz Frankreich getan hat. Irgendwie haben die Franzosen wohl gehofft, dass der neue Staatschef sich nicht von Hitler herumkommandieren lassen würde, aber dieses Treffen zwischen den beiden in Montoire und das berühmte Foto ihres Handschlags, welches sogleich in den Zeitungen verbreitet worden ist, hat uns da wohl eines Besseren belehrt.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 01, 2020 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Von Blut und Tränen - Le Prix du Sang et des LarmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt