Anfangs ist der böse Trieb wie ein Vorübergehender, dann wie ein Gast und zuletzt wie ein Hausherr. Nichts dient diesem Sinnspruch so sehr als Beweis wie unsere Welt, in der sich das Böse, wenn es einmal zu Tage tritt, mit Fängen und Klauen an seinem Opfer festbeißt – und es gibt kein Entkommen.
Mit ohrenbetäubendem Krachen zerbricht der weiße Porzellanteller auf den rötlich-braunen Fliesen des Küchenbodens. Ich habe noch gemerkt, wie er mir aus den Fingern geglitten ist; ich habe gesehen, wie er langsam, als wäre die Zeit um mich herum stehen geblieben, zu Boden gefallen ist. Ich hätte nur rechtzeitig die Hände nach ihm ausstrecken müssen, ich hätte es verhindern können. Aber mein Körper wollte mir nicht gehorchen und so kann ich nur noch beobachten, wie der weiße Teller vor meinen Füßen in tausend messerscharfe Scherben zerbricht.
Leise fluchend weiche ich zurück und starre das Chaos mit weit aufgerissenen Augen an. Mein Herz schlägt wie verrückt, in meinen Ohren hallt noch das laute Klirren nach. Langsam senke ich wieder die Hände und beäuge das blassblaue Adergeflecht meiner Handrücken im flackernden Kerzenschein. Meine Hände zittern unkontrollierbar. Schwer schluckend versuche ich mich selbst zu beruhigen, versuche tief durchzuatmen, doch weder das Zittern meiner Hände noch das Beben meiner Brust ebben ab. Es ist hoffnungslos.
Ein leises Schluchzen bahnt sich seinen Weg aus meiner Kehle, was mich die Hände auf den Mund pressen lässt, um das Geräusch zu dämpfen. Ich bin ohnehin laut genug, am Ende wecke ich noch Rachelle, wenn sie nicht schon längst wegen meines Krachs wachgeworden ist. Bedächtig lasse ich mich auf einem der vier Holzstühle am kleinen Küchentisch nieder und stemme meine Ellbogen gegen die Tischplatte, während ich mir mit den Händen durch die langen, braunen Haare fahre. Rachelle hat mir schon 100 Mal gesagt, dass ich sie mir doch endlich abschneiden soll, man trage seine Haare heutzutage schulterlang. Aber ich kann mich einfach nicht von ihnen trennen. Schließlich hat es lange genug gedauert, bis sie wieder nachgewachsen sind – nachdem meine lieben Mitschülerinnen eines Tages nach dem Sportunterricht meine beiden Zöpfe abgeschnitten haben.
Der Gedanke an die letzten Jahre meiner Schulzeit lässt meine Brust wieder erbeben, doch diesmal vor Wut. Ich merke kaum, wie sich meine Hände zu Fäusten ballen. Erst als sich meine Nägel schmerzlich lange in die weiche Haut meiner Handflächen hineingebohrt haben, blicke ich überrascht hinab. Selbst im schwachen Licht der Kerze erkenne ich, dass die Knöchel deutlich weiß hervortreten. Vorsichtig entspanne ich meine Hände wieder und sauge hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein, als ein scharfer Schmerz meine rechte Hand durchzuckt. Verblüfft inspiziere ich sie. Mein Nagel hat einen kleinen, rötlichen Kratzer hinterlassen. Mit einer Art morbiden Faszination beobachte ich, wie ein einzelner Tropfen Blut daraus hervorquillt und seine schmale Spur hinab zu meinem Handgelenk zieht.
Unbewusst fahre ich mit der linken Hand weiter über meinen Unterarm, meine Fingerspitzen schieben wie von selbst den zartrosafarbenen Seidenstoff meines Morgenmantels zurück, um bei einer kleinen Narbe haltzumachen. Seufzend streiche ich über das Zeugnis vergangener Kämpfe und schließe die Augen.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dasitze, versunken in düsteren Erinnerungen an eine Zeit, die nun wieder anzubrechen droht, als mich ein Räuspern aus meiner Reverie reißt. Alarmiert schlage ich die Augen auf, jede einzelne Faser meines Körpers spannt sich an. Doch es ist nur Rachelle. Noch brauche ich keine Angst davor zu haben, dass plötzlich ein Hunne in langem, schwarzem Ledermantel in meiner Wohnung auftaucht.
„Kannst du nicht schlafen?", fragt sie ernst und eindringlich. Die Arme um ihre zarte Brust geschlungen, lehnt meine Cousine im Türrahmen; hinter ihr brennt elektrisches Licht, welches ihr eine Art Heiligenschein verleiht, nochmal verstärkt durch ihren langen weißen Morgenmantel, der ihren schlanken Körper wie ein Engelsgewand umhüllt. Vielleicht fantasiere ich im Moment auch einfach nur...
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Von Blut und Tränen - Le Prix du Sang et des Larmes
Narrativa Storica14. Juni 1940: Die Wehrmacht marschiert in Paris ein. Nachdem sie mit ihren Eltern 1937 aus Berlin nach Frankreich geflohen ist, wähnte sich die 21-jährige Hanna Blum hinter der Maginot-Linie in Sicherheit. Eine Illusion, wie sie nun schmerzlich fes...