Kapitel 4

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Das Problem war, dass er nicht zurückkam. An diesem Tag nicht und auch nicht am darauffolgenden. Es wurde Freitagnachmittag und immer noch hatte niemand etwas von Lucius Malfoy gehört. Er hatte sich nicht krank gemeldet, war wie vom Erdboden verschluckt. Ein an ihn adressierter Brief war ungeöffnet am Fuß des Uhus zurückgekommen. Es war nicht so, dass Hermine ihn vermisste. Er war so plötzlich verschwunden, wie er Anfang der Woche aufgetaucht war. Und doch. Etwas beunruhigte sie. Er hatte offenbar lange um diese Stelle im Ministerium gekämpft, es erschien ihr unlogisch, dass er sich so mir nichts dir nichts aus dem Staub machen sollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihn mit ihren Worten wirklich getroffen hatte, dazu hatte ihre Meinung sicher zu wenig Bedeutung für ihn, und doch waren sie der Auslöser für seinen Aufbruch gewesen. Sie war seine Vorgesetzte und damit trug sie ein gewisses Maß Verantwortung für ihn und wenn sie ihn zu einer Mission gedrängt hatte, bei der ihm etwas zustieß, würde ihr das ewig nachhängen. Selbst wenn es Malfoy war.

In der letzten Nacht hatte sie nur unruhigen Schlaf gefunden. Sie würde sich nicht das Wochenende durch diese Ungewissheit verderben. Da er durch die Eulenpost nicht erreichbar war, würde sie wohl oder übel nach Malfoy Manor gehen müssen. Sie hätte jemanden damit beauftragen können, doch es war ihr ein wenig unangenehm, dass sie sich so sehr sorgte. Und das tat sie. Aus dem letzen Traum, an den sie sich erinnern konnte, war sie schweißgebadet erwacht, noch mit dem zerfleischten Körper des ehemaligen Todessers vor Augen. Sie hatte ihn an den Narben auf dem Rücken und einem Büschel blonden Haars erkannt. Die Suche nach den Werwölfen kam auch nur schleppend voran. Die Spur des Rudels war erkaltet und auch die Familie des Toten war wie vom Erdboden verschluckt. Wohl eher von dem Rudel verschluckt, stellte Hermine verbittert fest. Sie hatte keine große Hoffnung, die Muggel lebend zu finden. Auf die Anzeige im Tagespropheten hatte sich auch noch niemand gemeldet.

Als am Abend noch immer keine neuen Informationen eingetroffen waren, versiegelte sie ihre Bürotür und apparierte in gebührendem Abstand zum Grundstück der Malfoys – man konnte nie wissen, welche Abwehrzauber aktiv waren. Ein Schauer lief Hermine den Rücken hinunter, als sie sich dem schmiedeeisernen Tor näherte. Die dichte Hecke war so hoch, dass man kaum etwas erkennen konnte, doch Hermine wusste, dass dahinter ein großer, wenig einladender Park mit akkurat geschnittenen Büschen und furchteinflößenden Statuen wartete. Die Erinnerung an ihren unfreiwilligen Aufenthalt in diesem Gebäude drängte sich immer wieder in ihre Gedanken. Das war vergangen. Sie musste sich auf die Gegenwart konzentrieren. Es war Hochsommer und ein angenehm warmer Abend. Es war noch nicht dunkel, worüber Hermine sehr froh war, denn die Nacht hätte ihres dazu beigetragen, das Gelände noch unheimlicher wirken zu lassen. Sie stand nun direkt vor dem Tor und konnte das Haus dahinter sehen. Groß und furchterregend thronte es in der Mitte des Gartens. Die meisten Fenster waren dunkel und verriegelt, doch im Erdgeschoss war eines flackernd erleuchtet. Zögernd streckte sie die Hand nach dem metallenen Griff aus. Bevor sie ihn berühren konnte, schwang das Tor auf und gab den Weg zum Haus frei. Zügig ging sie nun darauf zu. Der Kies knirschte bei jedem ihrer Schritte. Sie wollte diesen Besuch so schnell wie möglich hinter sich bringen. Dreimal klopfte sie an die beeindruckende Holztür. Einen Moment lang hielt Hermine die Luft an und wartete gespannt. Dann öffnete sich die Tür und eine bekannte Gestalt blickte sie von oben herab an.

„Ja? Was wollen Sie?"

Narzissa Malfoy war in einen langen Morgenmantel aus schwarzer Seide gehüllt und ihr blondes Haar war perfekt frisiert. Hermine fühlte sich augenblicklich unbehaglich. Sie selbst trug eine weiße Bluse und einen eleganten schwarzen Rock unter dem weinroten Umhang und ihre dunkelbraunen Locken waren gekonnt am Hinterkopf zusammengesteckt. Eigentlich hatte sie sich wohl gefühlt, doch diese Frau trug nur einen Morgenmantel und war tausendmal besser gekleidet. Kleider machen Leute. Diese Redewendung der Muggel war offensichtlich die reinste Wahrheit.

„Ist Ihr Mann hier?"

„Lucius? Nein, ist er nicht. Und er wird auch nicht mehr hier her kommen. Dieses Haus ist nicht länger das seine."

Narzissa wand sich ab und wollte die Tür gerade schließen, doch Hermine schob einen Fuß dazwischen.

„Wissen Sie, wo er sein könnte?"

„Warum wollen Sie das so dringend wissen, Miss Granger?"

„Er wird seit Mittwoch vermisst. Er ist aufgebrochen, um etwas über das Rudel Werwölfe herauszufinden, das den Muggel getötet hat. Sicher haben Sie im Tagespropheten darüber gelesen. Als seine Vorgesetzte muss ich wissen, was passiert ist."

„Seine Vorgesetzte?", sie wirkte amüsiert, „Ich weiß nicht, wo er ist. Fragen Sie in der Nocturngasse nach ihm. Vielleicht hat ihn dort jemand gesehen."

Damit schlug sie die Tür zu und ließ Hermine ratlos stehen. Was hatte sie damit gemeint, das Haus sei nicht länger das seine? Sie war nur ein paar Mal in der Nocturngasse gewesen. Nach dem Krieg waren viele der dort ansässigen Läden geschlossen worden, Borgin & Burkes zum Beispiel hatte sich nicht mehr lange gehalten, mit der Zeit hatten sich allerdings wieder Geschäft dort angesiedelt. Es wurde nicht mehr offen mit schwarzmagischen Gegenständen gehandelt, doch jeder wusste, dass die Straße ihren zwielichtigen Charakter behalten hatte. Sie war nicht mehr so dunkel, nicht mehr so dreckig, aber immer noch gefährlich. Hermine stand vor einer schäbigen Tür. Eine Gruppe Hexen drängte sich an ihr vorbei und betrat das Gebäude. Ein Schwall Lärm und Alkoholgeruch schwappte heraus. Hier war sie richtig. Der Blinde Troll war ein Gasthaus, das in den drei Jahren, die es nun geöffnet hatte, bereits einen gewissen Ruf erwirtschaftet hatte. Für einen schönen Abend mit der Familie war es eher nicht geeignet, dafür gab es hier Schmuggler und allerhand zwielichtige Gestalten, die einem alles besorgen konnten, wenn man das nötige Kleingeld hatte. Sie holte einmal tief Luft und trat ein.

Drinnen herrschte buntes Treiben – es wurde getanzt, gelacht, getrunken, gespielt und, wie Hermine überrascht feststellte, duelliert. In einer Ecke der Kneipe war eine Art Ring aufgebaut und wer wollte, konnte dort gegen den amtierenden Champion im Duell antreten. Natürlich mit der verführerischen Aussicht auf einen üppigen Gewinn. Der ganze Raum war mit hellem Eichenholz getäfelt, einige Nischen in der Wand konnten durch einen Vorhang verdeckt werden und boten so Platz für intime Treffen. Die meisten Vorhänge waren gerade zugezogen und Hermine errötete bei dem Gedanken an das, was dahinter vermutlich gerade vor sich ging. Von der Decke hingen viele Laternen, die den Raum in angenehmes Licht tauchten. Auf einer kleinen Bühne standen zwei Zauberer, die auf magischen Instrumenten musizierten. Die Musik war nicht unbedingt nach Hermines Geschmack, aber den meisten anderen gefiel es offenbar. Sie achtete nicht weiter auf das Geschehen und kämpfte sich durch die feiernde Menge bis zur Bar. Ein Kobold schenkte gerade einige Gläser Butterbier aus und nickte ihr zur Begrüßung zu. Eines seiner großen Ohren war gespalten und eine unschöne Narbe zog sich quer über sein Gesicht. Als er sprach, konnte Hermine sehen, dass zwei seiner kurzen spitzen Zähne fehlten.

„Ein neues Gesicht. Willkommen. Was darf es sein?"

„Ich bin auf der Suche nach jemandem."

„So? Nach wem denn?"

„Lucius Malfoy. Kennen Sie ihn?"

Der Kobold sah sie einen Moment eindringlich an, dann sagte er: „Klar, wer kennt den nicht. Den hab ich vor ein paar Tagen noch gesehen, hat eins der Schlupflöcher gemietet."

„Schlupflöcher?"

Mit einem Grinsen nickte der Wirt in Richtung der zugezogenen Vorhände einer der Nischen.

„Wann genau war das?"

„Lass mich nachdenken... Mittwochabend muss das gewesen sein, da war es eher ruhig."

„Wissen Sie mit wem er sich getroffen hat?"

„Sag mal, Mädchen, warum fragst du das alles eigentlich?"

„Ich habe doch schon gesagt, dass ich auf der Suche nach Mr. Malfoy bin. Er ist verschwunden."

„Verschwunden?"

„Ja. Seit Mittwoch um genau zu sein. Können Sie mir nun sagen, wen er getroffen hat? Vielleicht kann derjenige mir weiterhelfen."

„Tut mir leid, mit wem er da drin war, weiß ich nicht."

Hermine wollte sich schon zum Gehen abwenden, doch der Kobold hielt sie auf.

„Das wird mir zwar vermutlich den Kopf kosten, aber hier", er schob ihr einen kleinen Schlüssel hin, „Zimmer 8. Die Treppe rauf und dann die letzte Tür links. Unsere dämliche Hauselfe Mincy ist gerade im Streik, deswegen ist das Zimmer noch nicht aufgeräumt und geputzt worden. Vielleicht hast du ja Glück."

Sie nahm den Schlüssel verwundert entgegen.

„Ich dachte, er hat sich ein Schlupfloch gemietet?"

„Hat er auch. Das Schlupfloch und ein Zimmer bis heute. Er war nur kurz oben, dann ist er gegangen. Wohin kann ich nicht sagen."

„Danke, Mr. ..."

„Buck. Nur Buck, Mädchen."

„Danke, Buck. Ich bin Hermine Granger", streckte sie ihm die Hand entgegen und er ergriff sie.

„Ich weiß natürlich, wer du bist. Du und deine Gesetze sind schuld daran, dass ich Mincy nicht rauswerfen kann, obwohl sie nicht arbeitet. So ein Gesicht vergisst man nicht."

Hermine sah ihn überrascht an. Buck lachte.

„Keine Sorge, ich vergesse auch nicht, wie du dich für die Rechte der Kobolde eingesetzt hast. Vor ein paar Jahren hätte ich noch keinen Pub führen können, ohne dass mir die Zaubereraufsicht im Nacken sitzt. Nun geh schon nach oben, bevor ich es mir anders überlege."

Hermine lächelte Buck an und machte sich auf die Suche nach Zimmer Nr. 8. Der Raum, den sie wenig später betrat, war nicht besonders groß. Ein einziges schmales Fenster ließ Licht herein und offenbarte einen kleinen Einblick in das Treiben der Nocturngasse. Die Straßenlaternen waren inzwischen angegangen und tauchten die Fassaden der Häuser in warmes Licht. Neben einer antik wirkenden Kommode stand ein Himmelbett aus fast schwarzem Holz. Darauf lag ein geöffneter Lederkoffer, der scheinbar in Eile durchwühlt worden war. Ein paar Socken lagen auf der Decke verteilt und ein Umhang war unachtsam auf den Teppich geworfen worden. Ein mit grünem Stoff bezogener Ohrensessel stand neben dem Fenster und ein klappriger Holzstuhl vor dem kleinen Schreibtisch. Darauf lag ein Bündel Pergamente und ein kleiner Münzbeutel. Neugierig lugte Hermine in den Beutel und stellte erstaunt fest, dass sich nur ein paar Sickel und Knuts darin befanden. Sie nahm die Dokumente und setzte sich damit in den Sessel. Die ersten Schreiben kamen von verschiedenen Geschäften, denen Lucius offenbar Gegenstände zum Kauf angeboten hatte. Ausnahmslos hatten sie abgelehnt. Es folgten zwei Briefe mit offiziellem Stempel. Hermine erkannte den ersten. Sie hatte im Ministerium einen kurzen Blick darauf werfen können. Es handelte sich um die Bestätigung der Scheidung von Narzissa Malfoy, geborene Black, und Lucius Malfoy. Der zweite Brief enthielt eine Abschrift einer Vereinbarung zwischen den Geschiedenen. Darin verpflichtete sich Lucius, Narzissa Malfoy Manor zu überlassen, bis er dazu in der Lage sei, sie auszubezahlen. Narzissa wiederum durfte das Haus nicht verkaufen. Das klang überhaupt nicht nach den Malfoys in ihrer Erinnerung. Scheidung? Geldmangel?

Es folgten einige Rechnungen. Hermine blätterte weiter bis ihr ein Schreiben auffiel, das offenbar vom Zaubereiminister stammte. Darin wurde Lucius unmissverständlich nahe gelegt, dass er einen Großteil seines Vermögens für den Wiederaufbau der Winkelgasse bereitstellen und für einige Zeit verschwinden sollte, um nicht als Anhänger Voldemorts wegen Kriegsverbrechen verurteilt zu werden. Was hatte Kingsley gesagt? Spende? So konnte man es auch sagen. Das durfte ja nicht wahr sein. Hermine meinte, einen Aufschrei von der Straße vernommen zu haben und blickte aus dem Fenster, doch sie konnte nichts erkennen. Vermutlich hatte sie sich getäuscht und es war nur ein Johlen von unten gewesen. Die letzten Papiere beinhalteten eine Korrespondenz mit der Gringotts-Bank, aus der hervorging, dass das Verlies der Malfoys vom Ministerium versiegelt worden sei und der Inhaber zunächst keinen Zugriff auf den Inhalt habe. Sie war wütend auf den Zaubereiminister. Er hatte ihr diese Informationen vorenthalten. Er hatte gegen das Gesetz gehandelt. Er hat sich nicht von Lucius bestechen lassen, nein, das nicht, er hat ihn selbst erpresst. Seufzend ließ sie die Papiere sinken. Das alles half ihr bei der Suche nicht weiter. Er konnte inzwischen überall sein. Sie stand auf und wollte das Bündel gerade wieder auf den Schreibtisch fallen lassen, als die Tür des Zimmers aufging.

Lumine I - DornröschenschlafWo Geschichten leben. Entdecke jetzt