Kapitel 2

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Den Rest des Tages verbrachte Hermine in angenehmer Ruhe vor ihrem neuen Mitarbeiter. Sie warf hin und wieder einen Blick durch die Scheibe, doch die meiste Zeit ignorierte sie ihn beflissentlich. Sie war gerade dabei, die letzten Dokumente für diesen Tag zu unterzeichnen, als Malfoy an die Glasscheibe klopfte und schwungvoll die Tür öffnete.

„Wenn Sie dann soweit sind, können Sie meine Arbeit überprüfen."

„Ich bin gespannt."

Sie ging an Lucius vorbei und setzte sich an den Schreibtisch. Der Raum war ziemlich klein. Die Tischplatte schloss mit der Wand zu ihrer linken ab und war auch nach hinten so nah es ging an die Wand gerückt. Geradeaus konnte man durch die Glasscheibe in ihr eigenes Büro blicken, links vor dem vollgestellten Tisch war die Tür auf den Flur. Der einzige Weg aus dem Raum führte rechts um den Schreibtisch vorbei und dort hatte sich Lucius mit der Schulter an die Wand gelehnt. Er versperrte ihr – vermutlich mit voller Absicht – den Weg aus dem Büro, wie Hermine feststellte. Sie fühlte, dass sie nervös wurde. Sie konzentrierte sich darauf, sich nichts dergleichen anmerken zu lassen, und begann zu lesen. Die ganze Zeit spürte sie seinen festen Blick auf sich. Er strahlte eine gewisse Stärke und Macht aus und Hermine konnte sich der Wirkung nur schwer entziehen. Warum musste er so gut aussehen? Und warum roch er auch noch geradezu betörend?

„Mr. Malfoy, Sie können gerne nach Hause gehen, wir können das morgen früh besprechen."

„Nein, ich denke, ich warte lieber, bis Sie fertig sind, ich habe es nicht eilig."

Natürlich wollte er nicht gehen. Er genoss ganz offensichtlich, dass sie sich in seiner Nähe unwohl fühlte.

„Dieser arrogante Mistkerl!", dachte sie bei sich. Laut sagte sie: „Ganz wie Sie wollen."

Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie an seiner Arbeit nichts auszusetzen. Die Begründungen waren allesamt makellos und einleuchtend. Er hatte sich an alle Vorschriften gehalten. Sie war ein wenig beeindruckt, das musste sie leider zugeben.

„Sie arbeiten recht ordentlich, Mr. Malfoy. Ich denke, für den Anfang behalten wir es so bei, dass Sie Akten aus verschiedenen Bereichen bearbeiten. Für den Außendienst brauche ich momentan nur erfahrene Mitarbeiter."

Sie stand auf.

„Guten Abend, Mr. Malfoy, grüßen Sie Ihre Frau von mir, ich habe sie schon so lange nicht mehr gesehen.", sagte sie grimmig.

Genau genommen war sie ihr seit der Schlacht von Hogwarts nicht mehr begegnet. Narzissa hatte damals ihren Teil dazu beigetragen, dass Harry überlebt hatte. Das änderte jedoch wenig an ihrer Abneigung.

„Gute Nacht, Miss Granger, grüßen Sie Ihren Mann, oder haben Sie etwa keinen?"

Er grinste fies, scheinbar in der Hoffnung, einen wunden Punkt erwischt zu haben. Was leider der Fall war. Hermine spürte, wie ihre Unterlippe und ihr Kinn zu beben begannen und schon wie die ersten Tränen über ihre Wangen liefen. Mit einem triumphierenden Lächeln rauschte er davon und Hermine ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. Sie war wütend auf ihn und auf sich selbst, weil er es am Ende doch noch geschafft hatte, sie aus der Fassung zu bringen. Jetzt war er immerhin verschwunden und sie konnte ihrer Wut und ihren Tränen freien Lauf lassen. Als sie wenig später nach Hause kam, war das Bedürfnis danach, mit jemandem zu reden, so groß, dass sie eine Prise Flohpulver aus einer Schale nahm und Harry und Ginny besuchte. Im Haus der Potters angekommen, klopfte sie sich erst den Staub von der Kleidung. Die Reisen mit Flohpulver waren praktisch und schnell, aber unkomfortabel und meistens dreckig.

„Hallo?"

Sie war im Wohnzimmer angekommen. Hinter ihr im Kamin prasselte das magische Feuer wieder gemütlich, nachdem es Platz für den Besucher gemacht hatte. Eine große und, wie sie aus Erfahrung wusste, sehr bequeme Couch stand davor und auf einem Tischchen standen drei leergetrunkene Weingläser. Drei Gläser? Bevor sie sich darüber Gedanken machen konnte, öffnete sich die große Flügeltür und Harry und Ginny kamen herein. Beim Anblick ihrer Freundin erschraken die beiden sichtlich.

„Hermine? Mit dir haben wir heute Abend nicht gerechnet. Ron war bis gerade eben hier, du hast ihn knapp verpasst.", sagte Ginny, nahm die Gläser und ging damit in Richtung Küche.

„Ron war hier?"

„Hat er dir das nicht gesagt? Er meinte, du hast zu viel im Ministerium um die Ohren und hast es deshalb nicht geschafft, mitzukommen."

Harry ließ sich auf das Sofa fallen und streckte die Beine aus.

„Nein, hat er nicht, ich meine, hat er euch nichts erzählt?"

„Was meinst du?"

Hermine setzte sich neben Harry und sah ihn verwirrt an.

„Wir haben uns getrennt. Er ist gestern ausgezogen."

Ihr Freund sah sie mit großen Augen an.

„Das hat er nicht erzählt. Er meinte zwar, dass ihr euch gestritten habt, aber er hat mit keiner Silbe eine Trennung erwähnt."

„Was ist los?"

Ginny kam grade wieder herein.

„Hermine und dein Bruder haben sich getrennt."

Ginny sah ihre Freundin verdutzt an.

„Weiß Ron das auch? Es kam mir vorhin nicht so vor."

Hermine runzelte nachdenklich die Stirn. Warum hatte Ron verschwiegen, dass er am Tag zuvor ausgezogen war? Wegen ihm war sie jedoch nicht hergekommen.

„Darum bin ich aber gar nicht hier. Zumindest nicht nur. Ich wollte euch etwas anderes erzählen."

Und Hermine berichtete von ihrem Vorhaben, in Hogwarts zu unterrichten und von ihrer Begegnung mit Lucius Malfoy. Sie sah, wie sich die Gesichter ihrer Freunde verdüsterten. Immerhin war Lucius derjenige gewesen, der Ginny in ihrem ersten Schuljahr einen Horkrux zugesteckt und ihr Leben dadurch massiv gefährdet hatte. Die drei waren sich jedoch einig, dass Hermine zumindest bis zum neuen Schuljahr auf Malfoy und seine Machenschaften achten sollte.

„Kingsley wird dich bestimmt nicht von Hogwarts fern halten wollen. Aber er tut wirklich gut daran, dich auf Lucius anzusetzen.", sagte Harry.

„Du hast genug von seinen Machenschaften mitbekommen und fällst bestimmt nicht auf seine Saubermann-Fassade rein und lässt dich nicht einfach von ihm um den Finger wickeln."

„Das haben andere doch auch. Dein Vater zum Beispiel.", erwiderte Hermine mit Blick auf Ginny.

Diese lachte: „Kannst du dir vorstellen, dass Dad und Malfoy Senior miteinander arbeiten könnten? Die würden kein einziges Wort miteinander sprechen und sich vermutlich irgendwann prügeln, wie damals in Flourish & Blotts."

„Ich erinnere mich. Meine Eltern waren ziemlich entsetzt über die rauen Sitten in der Zaubererwelt."

Hermine musste schmunzeln.

„Mom hat so getan, als ob sie wütend auf Dad wäre. Aber ich glaube, sie war selten so stolz auf ihn."

„Harry, ehrlich gesagt, ich habe Angst vor Malfoy. Er schüchtert mich durch seine bloße Anwesenheit ein und hat eine ganz merkwürdige Wirkung auf mich. Ich weiß nicht, ob ich mich dem entziehen kann."

„Mach dir keine Sorgen, er kann dir nichts tun. Sollte dir auch nur ein Kratzer zugefügt werden, schmeißt Kingsley ihn raus und ich bringe ihn um."

„Wie beruhigend.", sagte Hermine, doch sie lächelte dankbar.

„Und was machen wir jetzt mit Ron und dir?"

Harry nahm einen Schluck Feuerwhiskey.

„Ich hoffe einfach, dass wir bald wieder Freunde sein können, so wie es früher war. So ging es jedenfalls nicht mehr. Wir haben nicht funktioniert, das mussten wir wohl auf die harte und lange Tour lernen. Wir brauchen jetzt jeder ein wenig Zeit für sich und dann sehen wir weiter."

Harry und Ginny warfen sich einen Blick zu. Überzeugt waren sie nicht, aber sie nickten und sagten nichts weiter dazu. Warum hatte Ron nichts zu ihnen gesagt? Hermine blieb noch ein wenig bei ihren Freunden und reiste dann mit Flohpulver wieder nach Hause. Sie nahm eine ausgiebige, heiße Dusche und ging zu Bett. Hoffentlich hatte sie sich am nächsten Tag besser im Griff. Sie wollte Malfoy nicht noch mehr Angriffsfläche bieten, als sie es ohnehin schon getan hatte.

Am nächsten Morgen hätte sie beinahe nicht mehr daran gedacht, doch der Blick von ihrem Schreibtisch in das benachbarte Büro rief ihr die Geschehnisse des Vortages wieder in Erinnerung. Lucius saß bereits dort und las ein offiziell wirkendes Dokument. Offenbar hatte er nicht bemerkt, dass sie angekommen war. Sie hätte es natürlich dabei belassen können, doch die Höflichkeit gebot es ihr, ihn zumindest kurz zu begrüßen. Sie öffnete die Glastür und sah wie er schnell seine Hände auf das Papier legte, damit sie nicht mehr entziffern konnte, worum es ging. Er hatte sein langes blondes Haar zu einem Zopf zusammengebunden und trug wie immer einen eleganten schwarzen Anzug und darüber den üblichen schwarzen Zaubererumhang. Seine hellgrauen Augen waren direkt auf sie gerichtet und Hermine lief Gefahr von ihnen in ihren Bann gezogen zu werden.

„Guten Morgen.", sagte sie mit einem betont freundlichen Lächeln.

„Miss Granger.", erwiderte er mit einem angedeuteten Kopfnicken.

„Sie sind schon früh hier. Sonst bin ich meist die Erste in der Abteilung."

„Ihr Streben, immer und überall die Erste zu sein, ist mir natürlich bekannt."

Er grinste. Dieser Kerl war einfach unfassbar. Mit einem frustrierten Schnauben und unter Kopfschütteln schloss sie die Tür hinter sich. Es war unmöglich ein normales Gespräch mit ihm zu führen. Wenn das so weiter ging, würde sie ihn irgendwann im Affekt verfluchen. Wobei es natürlich schade um sein gutes Aussehen wäre. Was dachte sie da nur? Sie schüttelte den Gedanken ärgerlich ab. In zwei Tagen war Vollmond und routinemäßig lagen alle bekannten Werwolf-Akten zur Einsicht bereit. Meist verliefen die Nächte ruhig, seit die Werwolf-Zentren in Betrieb waren. Das waren Einrichtungen, in denen Betroffene ihre Verwandlung unter ärztlicher Aufsicht, das bedeutet unter Verabreichung von schmerzlindernden Tränken und dem Wolfsbanntrank, sowie in gesicherten Räumlichkeiten durchleben konnten. Dort waren sie vor sich selbst sicher, etwaige Verwundungen konnten fachgerecht geheilt werden, und auch ihr Umfeld wurde nicht durch eine unkontrollierte Verwandlung gefährdet. Diese Einrichtungen waren ein erster Schritt dazu, die Betroffenen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Auch andere Länder hatten damit begonnen, solche Programme anzubieten.

Hermine erinnerte sich noch gut daran, wie Professor Lupin nach ihrem dritten Schuljahr fast aus Hogwarts geflohen war, weil er Angst vor der Reaktion der Eltern hatte. Sie setzte alles daran, das Bild vom menschenfressenden Werwolf aus den Köpfen der Zauberer zu verbannen und sie an die Anwesenheit dieser Kreaturen zu gewöhnen. Ihr drittes Schuljahr. Auch wenn Seidenschnabel damals mit dem Leben davon gekommen war, Lucius Malfoy hatte alles daran gesetzt, ihn auf den Richtblock zu bringen. Ob er wusste, dass Hermine seinem Sohn einen Faustschlag verpasst hatte? Sie beobachtete, wie er sich Notizen auf einem Blatt Pergament machte. Vermutlich war Draco damals hin und her gerissen zwischen Wut und Scham, dass ein Schlammblut ihn geschlagen hatte. Sie glaubte nicht, dass er seinem Vater gegenüber diese Schande zugegeben hatte. Bei dem Gedanken an sein schockiertes Gesicht und den Anblick der davonstürzenden Slytherins musste Hermine unwillkürlich grinsen. Sie war so in die Erinnerung versunken, dass ihr gar nicht bewusst wurde, dass sie Malfoy dabei immer noch anstarrte. Offenbar hatte er ihren Blick gespürt und beobachtete sie nun seinerseits. Als sie merkte, dass ihr Gesicht noch immer zu einem Grinsen verzogen war, räusperte sie sich kurz, legte ihre Hand an die Stirn und tat so, als ob sie ihre Unterlagen eingehend studierte. Bestimmt war sie knallrot geworden, es fühlte sich jedenfalls so an.

Lumine I - DornröschenschlafWo Geschichten leben. Entdecke jetzt