Kapitel 8

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„Dürfte ich kurz das Bad benutzen?"

„Natürlich. Ihre Sachen können Sie einfach auf die Couch legen."

Als er im Bad verschwunden war, öffnete Hermine die Fenster und ließ frische Luft herein, stellte den Strauß Wildblumen in eine Vase, schaltete Musik an und deckte den Tisch. Sie nahm eine große Pfanne, begann Rühreier zu braten und steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster. Plötzlich hörte sie, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Sie wirbelte herum, als Ron herein trat. Er warf seine Tasche unachtsam auf den Boden und kam zu ihr in die Küche.

„Oh lecker Rührei. Woher wusstest du denn, dass ich komme? Hat Mum dir was gesagt?"

Er setzte sich an den Tisch und schnappte sich eine Scheibe Toast. Hermine war total überrumpelt. Sie hätte nicht damit gerechnet, dass er noch einmal hier auftauchen würde, schon gar nicht, ohne sich zu entschuldigen. Man hätte denken können, er sei gerade von einer Geschäftsreise oder einer Nachtschicht nach Hause gekommen. Er verhielt sich so, als ob zwischen ihnen nie ein Streit stattgefunden hätte. Sie konnte ihn nur überrascht anstarren.

„Was'n los?"

In dem Moment kam Malfoy aus dem Badezimmer. Als er Ron sah, machte sich Erstaunen auf seinem Gesicht breit. Ron dagegen sprang wie von der Tarantel gestochen auf und zog seinen Zauberstab aus der Tasche. Er zielte direkt auf Malfoys Brust. Der erhob langsam die Arme. Sein Stab lag auf dem Sofa.

„Ich glaube, ich spinne. Das hat ja wohl nicht lange gedauert. Ist der Kerl nicht vielleicht ein bisschen alt für dich?"

„Ron, so ist das nicht, wir sind nur Kollegen."

Ihre Gedanken und auch ihr Körper verrieten sie jedoch.

„Ach so nennt man das heute? Du widerst mich an, Hermine. Das ist ein Mörder! Ein Muggelhasser! Ein Schwein! Er hat Ginny einen verdammten Horcrux untergeschoben. Weißt du noch? Weißt du, wie er uns in der Mysteriumsabteilung verfolgt hat? Wie wir in SEINEM Haus gefangen gehalten wurden?"

„Das ist doch albern. Das ist Jahre her. Nimm den Zauberstab runter."

„Albern? Albern, sagst du?"

Statt den Stab zu senken, richtete er ihn jetzt auf Hermine. Er sah wütend und verletzt aus. Sie schüttelte nur stumm den Kopf. Glaubte er wirklich, was er da sagte? Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Lucius sich langsam auf das Sofa und seinen Zauberstab zubewegte.

„Ron. Bitte."

Ihre Stimme war nur ein leises Flüstern. Sie konnte nicht glauben, was gerade vor sich ging. Expelliarmus. In hohem Bogen flog Ron Zauberstab aus seiner Hand. Malfoy fing ihn gekonnt auf.

„Hast du wirklich vergessen, was diese Familie uns angetan hat? Der hätte doch nicht mit der Wimper gezuckt, bevor er uns getötet hätte." brüllte Ron.

„Mr. Weasley, ich glaube, es ist besser, Sie gehen jetzt."

Lucius Stimme war ruhig und leise, doch es lag etwas bedrohliches in ihr. Ron schnaubte verächtlich und warf den angebissenen Toast auf den Tisch. Er würdigte Hermine keines Blickes und packte seine Tasche vom Boden.

„Meinen Zauberstab", zischte er, als er an der Tür stand und Lucius warf ihn ihm zu.

Hermine zuckte zusammen, als er die Tür mit aller Kraft hinter sich zuschlug. Sie zitterte am ganzen Körper. Es war nicht so, dass sie wirklich Angst gehabt hätte, doch Scham und Enttäuschung machten sich in ihr breit. Sie nahm die Pfanne vom Herd und teilte das Rührei auf die beiden Teller auf, nahm Rons angebissenes Brot und begann stumm zu essen. Lucius setzte sich ihr gegenüber und tat es ihr gleich. Nach ein paar Bissen durchbrach sie das Schweigen.

„Es ist mir so furchtbar peinlich. Ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat. Wir haben uns vor ein paar Tagen getrennt und dann taucht er hier einfach so auf und tut so, als ob nie etwas vorgefallen wäre. Und dann diese Szene...", sie rieb sich die Stirn, „es tut mir leid, Mr. Malfoy, ich will Sie nicht mit meinem Privatleben belästigen."

„Belästigen Sie mich ruhig damit. Nachdem Sie nun so vieles über meine Scheidung und meine finanzielle Situation wissen, erscheint es mir nur fair, dass ich etwas über Sie erfahre. Mit wie vielen Verflossenen habe ich noch zu rechnen? Nur damit ich mich darauf einstellen kann."

Er grinste. Offensichtlich amüsierte ihn Rons Auftritt im Nachhinein prächtig. Hermine konnte nicht anders, sie musste lachen.

„Außer Ron wird da keiner kommen, keine Sorge."

„Das kann ich mir kaum vorstellen. Sie verdrehen doch bestimmt reihenweise den Zauberern den Kopf."

„Machen Sie sich nicht über mich lustig."

„Ich meine das vollkommen ernst."

„Natürlich", schnaubte sie.

„Hermine, Sie sind eine begehrenswerte junge Hexe, nur ein Dummkopf würde das nicht erkennen."

Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Bevor sie darüber nachdenken konnte, fragte sie: „Und was ist mit Ihnen? Sind Sie ein Dummkopf?"

Er zögerte einen Moment, dann sagte er: „Nein. Ich bin vieles. Aber das bin ich wahrlich nicht."

Ihr Magen zog sich zusammen. Er flirtete mit ihr. Und sie mit ihm. Und sie genoss es auch noch. Das war falsch. Und doch... Er beobachtete sie mit seinen faszinierend grauen Augen und Hermine spürte, wie sie in seinen Bann gezogen wurde. Sie stand auf und ging um den Tisch herum. Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus und berührte seine Schulter. Er griff sofort danach und Hermine erwartete, dass er sie wegschlagen oder wegziehen würde, doch er hielt sie nur sanft fest und schloss die Augen. Er duftete so verdammt gut – nach etwas, das sie schon einmal gerochen hatte, doch sie konnte es partout nicht zuordnen. Sie legte die andere Hand an seine Wange und gab ihm einen keuschen Kuss auf den Mund. Für einen Moment ruhte ihre Stirn an seiner, dann kehrte ihr Verstand zurück und sie wich abrupt ein paar Schritte zurück. Hermine schlug die Hand vor den Mund und starrte ihn entsetzt an. Was war nur in sie gefahren? Sie hatte ihn einfach geküsst. Einen Mann, der locker ihr Vater sein konnte, von dessen Sohn sie in der Schule Jahr für Jahr drangsaliert wurde, der ein Todesser aus dem engsten Kreis Voldemorts gewesen ist.

„Ich, ähm, oh Merlin, das tut mir so leid, ich weiß nicht..."

Weiter sprach sie nicht, denn Lucius war in schallendes Gelächter ausgebrochen.

„Nun, das wäre dann wohl geklärt."

„Was... Was ist geklärt?"

Er stand auf und kam auf sie zu. Sein Blick fixierte sie und Hermine spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann.

Er beugte sich zu ihrem Ohr und flüsterte: „Dass du mir nicht widerstehen kannst, obwohl du dich so sehr dagegen wehrst."

„Ich wehre mich gar nicht, ich meine, ich kann..."

Lucius schlang die Arme um ihre Hüften und hob sie auf den Tisch. Ihre Gesichter waren sich so nahe, sie konnte seinen heißen Atem auf ihrer Haut spüren, bevor er sie küsste. Nicht kurz und flüchtig wie Hermine es getan hatte, sondern leidenschaftlich. Einen Moment lang wollte sie ihn von sich stoßen, doch dann gab sie sich dem Gefühl hin. Die Spannung, die seit ihrem Aufeinandertreffen im Büro des Zaubereiministers immer stärker zwischen ihnen geworden war, entlud sich mit voller Wucht in diesem Kuss. Hermine stützte sich mit einer Hand ab und krallte sich mit der anderen in Lucius Rücken. Sie schlang die Beine fest um seine Taille und zog ihn so noch näher an sich. Ihr Kuss war so intensiv, wie sie es zuvor noch nie erlebt hatte. Sie musste sich eingestehen, dass sie ihn gerade mit jeder Faser ihres Körpers begehrte und es ihr herzlich egal war, was alles dagegen sprach. Soweit sie es beurteilen konnte, ging es ihm nicht anders. Er hatte die Ärmel seines Hemdes nach oben gekrempelt und als er mit seiner linken Hand in ihren Nacken griff, fiel Hermines Blick auf die Tätowierung auf seinem Unterarm. Das Dunkle Mal war zwar stark verblasst, doch sie konnte es noch immer erkennen. Lucius folgte ihrem Blick und wirkte auf einmal verlegen. Er wollte den Arm wegziehen, doch Hermine hielt ihn zurück.

„Darf ich es berühren?"

„Wenn... du möchtest."

Beinahe andächtig ließ sie ihre Finger an Totenkopf und Schlange entlang gleiten, bevor sie ihre Hand darauf legte und dort einen Moment ruhen ließ. Sie strich sanft darüber und sah, wie er sie nervös beobachtete, gerade als ob er auf ein Urteil wartete.

„Es fühlt sich normal an", sagte Hermine, „ich meine, ich habe fast damit gerechnet, dass es mir einen Schlag verpasst oder prickelt oder so etwas."

„Es wird immer schwächer. Ich hoffe, es verschwindet bald ganz", sagte er ernst.

Hermine schob ihren Ärmel ebenfalls nach oben, streckte ihren Arm aus und hielt ihn neben seinen. Lucius griff danach und betrachtete einen Augenblick den vernarbten Schriftzug, der sie als Schlammblut kennzeichnete, dann senkte er seine Lippen darauf und küsste jeden Buchstaben, als hoffte er, sie so verschwinden lassen zu können. Ein Klappern riss sie aus diesem berührenden Moment und sie sah, wie Alva in ihrem Käfig mit den Flügeln schlug.

„Ich sollte ihr lieber etwas Futter geben", sagte Hermine und rutschte vom Tisch herunter.

Sie holte eine Handvoll Käfer aus dem Kühlschrank und legte sie in die kleine Schüssel. Alva stürzte sich sofort darauf und verschlang die Tierchen. Hermine kraulte sie ein wenig und schloss danach den Käfig wieder. Sie hatte nicht daran gedacht, dass sie die Eule wecken würde, als sie die Fenster geöffnet hatte. Daran musste sie sich erst gewöhnen. Lucius war inzwischen an ihre Bücherwand getreten und studierte die Einbände.

„Eine wirklich beeindruckende Sammlung, wenn man bedenkt, dass du von Muggeln abstammst."

„Was soll das denn jetzt bitte heißen?"

Das durfte ja wohl nicht wahr sein. Jetzt, nach dem was gerade geschehen war, fing er mit ihren Muggelvorfahren an? Er sah sie irritiert an.

„Was meinst du?"

Hermine schnaubte verächtlich. Als ob er nicht genau wüsste, was sie meinte. Sie ließ mit einem Wink ihres Zauberstabes die benutzten Teller in die Spüle fliegen, doch sie war zu impulsiv und einer ging dabei zu Bruch. Bevor sie erneut ausholen und die Pfanne hinterher schleudern konnte, hatte Lucius ihr Handgelenk gepackt und hielt es fest.

„Hey! Was ist los?"

„Was los ist? Du denkst, dass ich als Schlammblut nur begrenzten Zugang zu magischem Wissen haben sollte. Dass ich mich mit dem hier zufrieden geben sollte. Dass mir nicht mehr zusteht."

„Wie kommst du denn jetzt da drauf? Glaubst du wirklich, dass ich hier bei dir wäre, wenn es so wäre? Dass ich dich geküsst hätte?"

„Ich... Nun, ich weiß es nicht. Es lässt sich nunmal nicht leugnen, dass du vor ein paar Jahren noch keinen Hehl aus deiner Abneigung mir gegenüber gemacht hast."

„Erstens beruhte das ja wohl auf Gegenseitigkeit..."

„Du gibst es also zu?"

Er ignorierte ihren Einwand. „Und zweitens war das nie etwas Persönliches."

„Ach nein? Ich habe es sehr persönlich genommen, als du mich an Voldemort ausliefern wolltest. Ich habe es sehr persönlich genommen, als Bellatrix mir das angetan hat."

Sie hielt ihm noch einmal den vernarbten Arm unter die Nase. „Oder als sie mich, das wertlose Schlammblut, für die Folter ausgewählt hat."

„Also geht es jetzt doch darum", sagte er trocken.

„Natürlich geht es darum", sie schrie jetzt beinahe, „du hättest, nein, falsch, du HAST nicht mit der Wimper gezuckt, bevor du ihn gerufen hast. Ich habe das Bild noch deutlich vor mir – denn ich träume regelmäßig davon und lass dir gesagt sein, das sind keine besonders schmeichelhaften Träume, was dich betrifft. Es hat nicht viel gefehlt und ich wäre bereits seit Jahren tot."

Hermine ballte ihre Fäuste. Ihre ganzen angestauten und verwirrenden Gefühle brachen in diesem Moment aus ihr heraus und ließen eine alte Vase zerbersten.

„Nicht mit der Wimper gezuckt?", er entfernte sich einige Schritte von ihr. Seine Stimme bebte vor unterdrückter Wut, „nicht mit der Wimper gezuckt... Du hast doch überhaupt keine Ahnung. Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn man an einen Wahnsinnigen gekettet ist, ohne Aussicht auf Erlösung. Wenn man nicht nur für sich, sondern auch für sein Kind und seine Frau verantwortlich ist. Wenn jede falsche Bewegung deine und auch ihre letzte gewesen sein könnte."

„Ach ja? Ich weiß sehr wohl, was Verantwortung für andere bedeutet. Weißt du, was ich gemacht habe, bevor ich mit Harry und Ron untergetaucht bin? Ich habe mich selbst aus dem Leben und der Erinnerung meiner Eltern gelöscht, damit IHR ihnen nichts antun könnt. Meine Eltern leben noch, irgendwo, ich weiß nicht wo, aber sie wissen nicht mehr, dass sie eine Tochter haben. Für sie bin ich eine vollkommen Fremde. Sag mir nicht, ich hätte keine Ahnung – ich weiß sehr genau, was es heißt, Opfer zu bringen."

Ihre Stimme bebte und sie fühlte wie ihr Tränen in die Augen schossen. Verzweifelt versuchte sie, sie weg zu blinzeln. Sie wollte jetzt nicht weinen. Nicht jetzt, wo sie so wütend war.

„Hermine..."

Er war auf sie zugegangen und hatte die Hand nach ihr ausgestreckt.

„Lass mich! Fass mich nicht an!"

Sie riss sich von ihm los, doch er ließ sich nicht so leicht abschütteln – er hielt sie fest und zog sie zu sich. Hermine wehrte sich und schlug nach ihm, was er einfach ignorierte. Während er sie an sich drückte und ihr beruhigend über den Rücken strich, schwand langsam ihr Widerstand, bis sie sich schließlich ihrerseits an ihn klammerte.

Er flüsterte: „Es tut mir leid."

Hermine vermisste ihre Eltern in diesem Augenblick so sehr wie seit langer Zeit nicht mehr. In den letzten Jahren hatte sie sich an den Gedanken gewöhnt, sie nicht wieder zu sehen, denn jeder Versuch, sie zu finden, war gescheitert, egal wie sehr sie sich bemüht hatte.

„Vielleicht setzt du dich einen Moment?"

Lucius zog sie sanft aber bestimmt zur Couch und reichte ihr ein bedrucktes Stofftaschentuch. Hermine trocknete ihre Tränen und wollte es ihm zurückgeben, doch er wehrte ab. Er strich ihr eine Locke aus dem Gesicht und lächelte sie traurig an.

„Ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt gehe."

„Nein! Nein, es... Es tut mir leid, ich habe überreagiert. Ich..."

„Du musst dich nicht entschuldigen. Ich habe nicht darüber nachgedacht, was meine Wortwahl bei dir auslösen könnte. Glaube mir, ich hatte nicht die Absicht, dich dadurch zu verletzen. Aber siehst du nicht, dass es immer so sein wird?"

„Was meinst du?"

Lucius stand auf und raufte sich die Haare.

„Ich sage etwas, du fasst es falsch auf und wirfst mir vor, dich zu verachten. Oder vielleicht sage ich in einem Streit wirklich einmal so etwas, um dich zu verletzen. Oder du machst etwas in der Art. Wir können die Vergangenheit nicht abschütteln, sie wird uns immer einholen. Deshalb werde ich jetzt gehen, bevor..."

„Bevor was?"

„Bevor ich es nicht mehr über mich bringe", er packte seinen Umhang und seinen Koffer und legte die Hand an den Türknauf, „es ist besser so. Wir sehen uns morgen im Ministerium."

Die Tür fiel laut hinter ihm ins Schloss und Hermine war alleine in der Wohnung. Nein, nicht alleine, Alva machte sich in diesem Moment lautstark bemerkbar und klapperte in ihrem Käfig. Hermine öffnete das Schloss magisch und die kleine Eule flatterte zu ihr herüber, wo sie sich auf ihre Schulter setzte und ihr Köpfchen an sie schmiegte. Sie fühlte sich schuldig. Es war für kurze Zeit so schön gewesen und sie hatte es verdorben. Warum hatte sie sich nicht im Griff? Sie war sonst so besonnen, doch wenn es um ihre Gefühle ging, war sie schon immer impulsiv und hitzköpfig. Ron hatte das mehrfach zu spüren bekommen.

Lumine I - DornröschenschlafWo Geschichten leben. Entdecke jetzt