Fuck Family

Du weißt doch gar nicht, was das bedeutet.

Linas Handy vibrierte und sie wollte nachgucken, wer ihr geschrieben hatte. Sie hatte dem Priester sowieso nicht zugehört. Vorsichtig warf sie einen Blick zur Seite an ihrem Stiefbruder vorbei auf ihre Stiefmutter. Ihre Augen waren starr auf den Priester gerichtet und sie sah aus, als würde sie jedes Wort von ihm aufsaugen. Lächerlich. Nur beiläufig schnappte Lina das Wort 'Nächstenliebe' auf und verzog ihr Gesicht bei dem Gedanken, was für eine Heuchlerin Angelika war. Leise und vorsichtig holte Lina ihr Handy aus der Jackentasche und hielt es rechts neben ihren Oberschenkel, damit ihre Familie links von ihr es nicht bemerken würde. Fast schon enttäuscht stellte Lina fest, dass die Nachricht 'nur' von ihrer besten Freundin Lili stammte und nicht von Tino.
'Na du, lebst du noch oder schmorst du schon in der Hölle? ;) Hanna und ich wollen uns morgen nach der Schule treffen, um für Mathe zu lernen. Kommst du auch? 16 Uhr bei mir. Bitte sag ja, wir brauchen deine Gehirnzellen!'
Lina schmunzelte. Sie war eher mittelmäßig in Mathe, aber Lili hatte ihre Stärken ganz woanders und Hanna steckte ihre Energie einfach in andere Dinge statt Schule, obwohl sie wahnsinnig intelligent war.
'Sinke jeden Tag eine Stufe tiefer. Glaube, ich hab schon 40 Grad Fieber. Muss den Drachen um Erlaubnis fragen yk -.-'
Schnell drückte Lina auf senden und wollte gerade ihr Handy wegpacken als Robin sich zu ihr lehnte und leise flüsterte:
"Scheint, als würde da jemand nachher Ärger bekommen."
Genervt verdrehte Lina die Augen und zeigte ihm heimlich den Mittelfinger. Natürlich würde ihr Verhalten zuhause wieder ausdiskutiert werden müssen. Zum kotzen.

"Ich kann es nicht fassen! In der Kirche kann man ja wohl nicht ins Handy gehen! Wie kann man so wenig Respekt vor Gott haben! Du solltest dich schämen! Du bist eine Schande! So etwas hätte es früher nicht gegeben! Du unerzogenes Blag! Kein Respekt und keine Manieren! Ich fasse es einfach nicht!"
Angelikas Stimme war kurz davor sich zu überschlagen. Noch viel lauter konnte sie wohl nicht werden. Schon wieder war ihr Gesicht feuerrot vor Wut. Das konnte so niemals gesund sein, dachte Lina. Ihr Vater stand bloß schweigend daneben mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn. Robin grinste hämisch in sich hinein. Schadenfrohes Arschloch.
"Am liebsten würde ich dich aus dem Haus werfen! Dann kannst du sehen, wie du zurecht kommst! Und selbst dann würde ich es noch bereuen, dass ich dir je geholfen habe, indem ich dir auch noch das Kochen beigebracht habe."
Oh Nein, das Kochen und der Haushalt. Was eine Schande, dass diese Hexe Lina all diese Dinge beigebracht hat, um sie nicht mehr selbst machen zu müssen, dachte Lina. Ihr Vater schwieg noch immer. Lina konnte es nicht fassen, dass dieses Monster ihr drohte, sie aus seinem Haus rauszuwerfen und er stillschweigend daneben stand. Sie wollte nicht mit Angelika reden. Sie wollte sie nicht mal mehr anschreien. Sie wollte endlich wieder mit ihrem Vater reden.
"Siehst du das etwa auch so? Fändest du das auch besser, wenn ich auf der Straße leben würde? Oder wäre es dir auch recht, wenn ich einfach sterben würde?"
Nun schaute ihr Vater sie endlich an. Sein Blick wirkte verwirrt. Er hatte keine Ahnung, was in seiner Tochter vorging.
"Jetzt red doch nicht so einen Unsinn. Wer hat denn hier von sterben geredet. Du übertreibst. Du weißt doch gar nicht, was das überhaupt bedeutet."
Die Worte trafen Lina härter als jeder Schlag ins Gesicht. Sie drehte sich um und ran in ihr Zimmer. Tränen strömten ihre Wangen hinunter. Sie schlug die Tür hinter sich zu. Einen Zimmerschlüssel hatte sie nicht, also schob sie ihren Schreibtisch vor die Tür. Dann ließ sie sich auf den Boden fallen und weinte.