Kapitel 6

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Ich bahnte mir meinen Weg durch die engen Gassen, vorbei an fleißigen Handwerkern, spielenden Kindern und bettelnden Armen. Wo Traumfänger sich an einem so schönen Morgen befand, war nicht schwer zu erraten. Heute war Markttag und Traumfänger wie ich ihn kannte, komplett in seinem Element. Er liebt es den Markbesuchern ohne Vorwarnung einen kleinen Happen seiner Zukunftsvisionen hinzuwerfen, sie damit zu ködern, sodass sie mehr ihrer Zukunft wissen wollten. Kurze Zeit später gingen sie mit einem aufgetischten Lügenmärchen und einem leichteren Geldbeutel ihres Weges.

Als ich den Markplatz erreicht hatte musste ich nicht lange nach Traumfänger suchen. Er war großgewachsen und mit seinem schulterlangen, weißblonden Haar hätte ich ihn sogar in der größten Dunkelheit auch noch erkannt. Eine Traube von Menschen war um ihn versammelt und klebte an seinen Lippen. "Wehrte Dame, ich kann Ihnen nur sagen, dass sie ihren Partner fürs leben in den nächsten Wochen treffen werden. Halten Sie ihr Herz bereit für die Liebe ihres Lebens. Er wird ihnen hier auf dem Markplatz begegnen. Seien Sie wachsam!", verschwörerisch zwinkerte er der jungen Frau zu, die ihr Glück kaum fassen konnte und ihm eine Münze gab.

Schon streckten weitere Marktbesucher ihm die Hände hin und wollten ebenso eine vielversprechende Geschichte aufgetischt bekommen. Ich verdrehte die Augen. Wie konnte man nur so leichtgläubig sein.

Langsam ging ich auf die Zukunftshungrigen zu. Als Traumfänger von seinem neuen Kunden hochsah und mich erblickte, grinste er bis über beide Ohren. Er brachte seine Prophezeiung zu Ende und entschuldigte sich dann.

"Joona, schön dich zu sehen! Hast du gehört, gestern soll die Tochter eines Kaufmans aufgeschlitzt worden sein!", flüsterte er mir ins Ohr, als er mich zur Begrüßung umarmte.

Ich klopfte ihm auf die Schulter: "Nein, dieser neueste Marktplatzklatsch ist mir neu!"

Mein bester Freund sah mich wissend an. Dann legte er mir einen Arm um die Schultern und zog mich mit sich. Wir liefen vorbei an Markttischen, jeder davon beladen mit Obst, Gemüse, Handkunstwerken oder filigranen Schmuck und Vasen. Immer wieder blieben Leute stehen und sahen Traumfänger erwartungsvoll an oder versuchten ihm ihre Hände hinzuhalten, doch er ignorierte sie allesamt. Ich runzelte die Stirn. Traumfänger lies sich sonst keine Gelegenheit entgehen, seine Künste auszuüben.

Wir bogen in eine kleine Gasse ab. Hier war vom Getümmel des Marktplatzes nicht mehr viel zu hören. Zwei schmutzige Kinder spielten neben einer Pfütze und eine Frau goss ihren Nachttopf auf die Straße. Angeekelt hielt ich mir die Nase zu. Vor einem kleinen, in die Jahre gekommenen Haus blieben wir stehen. Traumfänger klopfte drei Mal an der pechschwarzen Tür dann öffnete sie eine junge Frau. Ihre grünen Augen leuchteten und ihr schneeweißes Haar fiel ihr bis über die Hüften. Sie trug ein einfaches Leinenkleid und genau diese Schlichtheit betonte ihre Schönheit. In der Hand hielt sie einen hölzernen Kamm und sah Traumfänger überrascht an.

"Ich habe dich nicht so schnell wieder erwartet!", dann fiel ihr Blick auf mich, "Joona, schön, dich wiederzusehen!".

Noctem UmbraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt