Meine Ankunft im Rosenschloss war nun schon einige Stunden her, und ich schaute aus dem Fenster meines Zimmers im 7. Stock. Das Zimmer teilte ich mir mit drei weiteren Mädchen, von denen ich nicht besonders begeistert war. Ich wusste, dass sich zwischen mir und meinen Zimmergenossinen wohl keine innige Freundschaft bilden würde. Sie stammten alle drei aus sehr reichen Familien und hatten sich den Platz an dieser Schule gekauft, was hier vollkommen normal war, es gab fast keine andere Möglichkeit angenommen zu werden. Irgendwie hatte ich aber gehofft, mit den anderen Mädchen in ein Zimmer zu kommen, die ebenfalls ein Stipendium erhalten hatten, doch offensichtlich hatte das nicht geklappt. Die anderen Drei hielten ebenso wenig von mir wie ich von ihnen. Dementsprechend eisig war die Stimmung unter uns Vieren. Ich schaute mich kurz um, als ich die Drei durch die Zimmertür kommen hörte, lauthals lästernd über irgendwelche anderen Mädchen. Mit einer von ihnen hatte ich gehofft, vielleicht doch Freundschaft zu schließen. Sie hieß Elise und war ein hübsches Mädchen, mit langen, dunkelblonden Haaren und haselnussbraunen Augen. Sie sah nett aus, und beteiligte sich auch nicht viel am Gespräch. Sie wirkte ein wenig schüchtern und unsicher, so als fühlte sie sich fehl am Platz. Wahrscheinlich hatten sie ihre Eltern gezwungen auf diese Schule zu gehen, da ein Abschluss am Rosenschloss immer gut ankam. Auch wenn sie es bei dieser Familie höchstwahrscheinlich gar nicht nötig hatte später einmal selbst Geld zu verdienen. Höchstwahrscheinlich war noch stark untertrieben. Ich hatte durch Zufall ihren Nachnamen aufgeschnappt.
"Von den Hügellanden". Jeder kannte diese Familie. Es war der Name der Lords von den Hügellanden, einer Region im Westen Agariens. Elise aber schien gar nicht zu wollen dass jeder ihren Namen kannte. Das machte sie für mich zu einer sehr symphatischen Person. Die anderen Mädchen hießen Aurelia und Lumilla. Aurelia hatte braune Haare und wunderschöne eisblaue Augen, die trotz ihrer Schönheit die Kälte in ihrem Blick und die Stimmung die sie verbreitete sehr gut wiederspiegeten. Lumilla war sehr klein und zierlich. Sie trug ihr schwarzes Haar in einer aufwendig geflochtenen Hochsteckfrisur. Sie hatte, wie Elise, ebenfalls braune Augen und einen weitaus wärmeren Ausdruck im Gesicht als Aurelia. Ja, ich schien Aurelia wirklich zu hassen, dabei tat ich das gar nicht. Ich erwiderte bloß die Kälte die diese ausstrahlte.
Aurelia wiederum blickte mich angewidert an als sie das Zimmer betrat. Für sie waren Menschen wie ich, die ein Stipendium brauchten und sich anstrengen mussten um es im Leben einmal weit zu bringen, nichts wert, und das zeigte sie auch gerne. Ich tat so, als hätte ich es nicht gesehen und wendete mich wieder dem Fenster zu. Es gab den Blick auf den wunderschönen Garten frei, für den das Rosenschloss berühmt war. Er war riesengroß und hatte nicht nur Beete, einen Seerosenteich, und verwunschene Brunnen, sondern auch einen ganzen Wald an der Nordseite, in dem viele magische Geschöpfe leben sollen. Ich freute mich schon darauf, diesen Wald zu erkunden, generell das ganze Schloss zu erkunden, denn es war gewaltig und angeblich gab es viele geheime Räume, Gänge und sogar ein ganzes unterirdisches Kellergewölbe mit Grotten und Seen darin. Das Rosenschloss war für mich ein Mysterium welches es zu ergründen galt, und vielleicht, nein, wahrscheinlich würde ich darüber schreiben. Denn genauso wie ich es in meiner Kindheit so gerne getan hatte, schrieb ich noch immer sehr viel. Nicht nur über Ereignisse die in meinem Leben passierten oder wahr waren, sondern ich dachte mir auch selbst Geschichten und ganze neue Welten aus in denen diese Geschichten spielten. Ich träumte auch oft von diesen Welten und dann kamen sie mir so lebendig vor. Das liebte ich am meisten daran. Das Gefühl, Leben zu erschaffen wenn ich mir diese Welten ausdachte. Wenn ich traurig war, erschuf ich traurige, schreckliche Welten in meinem Kopf, von Armut, Hunger und Krieg geprägt. Doch mir taten die Wesen darin so sehr leid, dass ich versuchte sie schnell wieder zu vergessen und sie ganz hinten in dem Chaos in meinem Kopf einsperrte. Ich wurde brutal aus meinen Gedanken gerissen, als die Schulglocke mit drei lauten Schlägen erklang und die Schüler zum Abendessen rief. Die Glocke musste sehr laut sein, damit auch die Schüler im Wald sie hörten, doch für mich war sie eindeutig zu laut. Mit noch immer schmerzenden Ohren quetschte ich mich hinter den anderen Mädchen aus der Tür, was gar nicht so leicht war, da Aurelia die Tür so schnell sie konnte hinter sich verschloss, damit ich nicht hinterherkam. Ich klemmte mir meine Finger auf schmerzhafte Weise ein, worüber Aurelia nur lachen konnte. Elise warf mir einen mitleidigen Blick zu, aber nur kurz, sonst hätte Aurelia es womöglich bemerkt. Mir bedeutete dieser Blick sehr viel, denn er hieß, dass ich vielleicht doch noch eine Freundin hier finden würde. Es war aber unwahrscheinlich, da Aurelia Elise, die kurz stehengeblieben war, jetzt wieder mit sich zog, wie sie es immer tat. Sie ließ den Anderen gar keine Zeit und Freiheit selbst Freunde zu finden. Naja, bei Lumilla war das vermutlich egal. Sie lief Aurelia blind hinterher und tat alles was ihr diese befahl. Das ärgerte mich. Wie konnte ein Mensch nur so doof sein und jemandem wie Aurelia so verfallen? Sie war schon am ersten Tag mehr die persönliche Sklavin von Aurelia als ihre Freundin.
Wir durchquerten die Gänge der Schule, wobei ich immer darauf bedacht war einen gewissen Sicherheitsabstand beizubehalten und Türen selbst zu öffnen. Es ging durch das große Treppenhaus des Turmes, eine breite Wendeltreppe, die sich über zehn Stockwerke nach oben zog, dann bogen wir in einem Gang links ab, vorbei an einem der Innenhöfe. Der Gang war durch mehrere Torbögen vom Hof getrennt und man sah von hier aus sehr gut die hübschen Rosenranken, die sich an der Schlossmauer hochzogen. Jetzt gerade war ich sehr froh darüber Aurelia und ihren Anhang vor mir zu haben, ansonsten hätte ich mich vermutlich im großen Schloss verirrt. Während ich ein wenig wartete um den Sicherheitsabstand wiederherzustellen den ich verloren hatte, da ich nicht aufgepasst hatte, schaute ich mich in den Gängen um. Die Wände waren weiß tapeziert, und rund an der Decke, alle paar Meter gab es Säulen an den Wänden die durch Bögen an der Decke verbunden waren. Die Gänge waren außerdem mit einem roten Teppich ausgelegt. Die Türen, welche ab und zu links und rechts in weitere Räume führten, waren ebenfalls weiß, hatten aber einen goldenen Türgriff. Es wäre gar nicht verwunderlich wenn diese Türgriffe aus echtem Gold bestünden.
Wahrscheinlich taten sie das sogar.
Als ich hörte wie sich die Schritte der Anderen langsam entfernten (Man hörte die Schritte sehr gut, da sie alle besonders teure, hohe Schuhe trugen, die bei jeden Auftreten laut klackerten.), wendete ich meinen Blick von den goldenen Türgriffen ab und setzte meinen Weg durch die Gänge des Schlosses fort. Es dauerte noch eine gefühlte Ewigkeit, bis wir endlich am Speisesaal ankamen. Ich staunte nicht schlecht, als ich diesen sah. Er zog sich über zwei Stockwerke, so dass die Decke, an der hübsche Kristallkronleuchter hingen, die mindestens vier mal so groß waren wie ich, besonders hoch war. Es gab sechs lange große Tische, und zwölf etwas kleinere Tische. Der Tisch ganz hinten schien der Lehrertisch zu sein. Sie waren alle reichlich gedeckt, es gab besseres Essen als ich es mir jemals erträumt hatte. Natürlich war niemand so beeindruckt wie ich, für die anderen Schüler war es Normalität so zu essen. Suchend sah ich mich um. Es gab zwar noch einige freie Plätze, aber ich wollte mich neben Leute setzen, die möglichst nett aussahen. Ich entschied mich für einen der kleineren Tische, an dem schon vier Plätze belegt waren. Es waren also noch einige frei und ich setzte sich auf einen dieser freien Stühle. Ich versank fast in dem Polster des Stuhls, welches riesig und unglaublich weich war. Ich fühlte mich wie auf einem Thron, als ich da saß und die Speisen vor mir betrachtete.
"Hallo!", sagte das Mädchen welches neben mir saß.
"Hallo!", grüßte ich zurück, während ich mich freute das mir jemand mal Beachtung schenkte ohne sie durch angewiderte Blicke oder Türenknallen zu äußern.
"Hast du auch ein Stipendium bekommen?", fragte das Mädchen. Ich nickte nur. Sprechen konnte ich nicht mehr, da ich mir den Mund schon mit Kartoffeln vollgestopft hatte. Erst jetzt fiel mir auf wie viel Hunger ich eigentlich hatte.
"Für was?", fragte das Mädchen weiter. Ich schluckte die Kartoffeln herunter und war nun endlich in der Lage zu antworten: "Fürs Schreiben."
Das Mädchen nickte beeindruckt.
"Ich fürs Tanzen", sagte sie schließlich. "Ich bin übrigens Alina!"
"Ich bin Tiana", sagte ich und lächelte. Ich hatte eine Freundin gefunden.
"Vielleicht können wir mal was zusammen machen", sagte Alina. "Oder hast du was anderes zu tun?"
"Nein", erwiderte ich. "Hab ich nicht. Ich sitze eigentlich nur den ganzen Tag in meinem Zimmer und höre diesen Zicken beim Lästern zu." Ich lachte. Wie absurd das doch klang, als hätten die keine anderen Probleme.
"Toll!", sagte Alina erfreut. "Treffen wir uns morgen nach dem Unterricht am Seerosenteich?"
"Klar!", antwortete ich glücklich.
"Vielleicht können wir den Wald erkunden?".
Alina nickte. Die Verabredung stand. Sie wirkte auch sehr erleichtert darüber, dass sie eine Freundin gefunden hatte. Wer wusste schon, mit wem sie ihr Zimmer teilen musste.
Wir gingen noch gemeinsam bis in den vierten Stock des Turmes. Hier hatte Alina ihr Zimmer und verabschiedete sich von mir. Ich lief noch drei Stockwerke weiter, bis ich bei Zimmer 372, meinem Zimmer, angekommen war. Ich ließ noch lange eine kleine, magische Laterne brennen, die ich von meinen Eltern zum zehnten Geburtstag bekommen hatte. Im Grunde war es nicht mein Geburtstag, sondern der Tag meiner Adoption. Wann ich geboren wurde, konnte niemand genau wissen. Ich schrieb jetzt im Licht der Laterne. Ich schrieb keine Geschichte oder ein Märchen, ich führte Tagebuch. Ich schrieb alles auf, was ich über den Tag gefühlt hatte, was ich gesehen, gehört und geschmeckt hatte. Und ich war glücklich darüber, dass das Letzte was ich an diesem Tag fühlte Freude war. Freude darüber dass ich hier war und über meine neue Freundin. Eigentlich Freude über alles, was passiert war. Alles was mich zu diesem Moment geführt hatte und mich zu dem schlauen, dankbaren, kreativen Menschen gemacht hatte, der ich war. Die anderen Mädchen störte das Licht der Laterne nicht, es war unsichtbar. Unsichtbar für jeden außer für mich. Das war seine Zauberkraft. So hatte ich immer ein wenig Licht, wenn alle Anderen in der Dunkelheit verloren waren. Das hatten meine Eltern mir gesagt. Wie wahr es doch war.
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Traumwelt
Fantasy»"Ich möchte fliegen", sagte ich zu dem feenblauen Falter auf meiner Handfläche. "Wie ein Vogel. Hoch über den Wolken, so dass mich keiner mehr sehen kann." Und er antwortete mir.« Tiana ist überglücklich als sie am Rosenschloss, der Schule ihrer Tr...