Es war früher Nachmittag. Die Kinder waren draußen und ich passte auf, was bei ca. 100 Kindern nicht ganz so einfach war.
"John, nicht auf den Zaun!"
"Emily, wir schlagen nicht! Komm sofort zu mir!"
"Ryan, warum weinst du schon wieder?"
"John, jetzt reicht es! Du bleibst jetzt bei mir!"
Erstaunlicherweise gehorchte mir der größte Teil, so konnte ich sie einigermaßen in Schacht halten. Hope saß still neben mir und starrte in das Chaos aus lauten Kindern. Ich fragte sie, warum sie nicht mit den Kindern spielen würde, daraufhin zuckte sie nur die Schultern, streckte dann aber ihre rechte Hand aus. Ich guckte fragend, sah aber dann wieder den Ring.
"Was ist das für ein Ring und warum beschützt du ihn so?", ich erwartete nicht wirklich eine Antwort, schließlich war das nicht so ihre Stärke, doch nach langem Überlegen nahm sie sich einen Stock und fing an etwas in die Erde zu malen. Für ein ungefähr 11- jähriges Mädchen sah es erstaunlich gut aus. Während sie alles aufmalte, beobachtete ich die Kinder, dass auch keines über den Zaun kletterte, doch es sah alles gut aus, auch als ich durchzählte, waren alle vorhanden. So wendete ich mich wieder Hope zu, welche ihre Zeichnung beendet hatte. Während sie mit dem Stock auf die verschiedenen Zeichnungen zurechtwies, versuchte ich sie zu deuten und Zusammenhänge zu finden.
"Das bist wahrscheinlich du. Und das, ist das ... deine Mutter?"
Sie nickte und bewegte den Stock zum nächsten Bild. Dort lag eine Frau in einem Bett, Hope (vermutlich) stand daneben. Ich wollte es nicht aussprechen, doch wollte ich ihre Geschichte erfahren.
"Sie... ist gestorben?" Sie zögerte kurz, dann nickte sie bedrückt.
Auf dem nächsten Bild war eine Hand zu sehen, in welche sie einen Ring gezeichnet hatte, ich vermutete den Ring an ihrer Hand. Als ich sie danach fragte, nickte sie. Das war das Ende ihrer Geschichte, zumindest der Bildergeschichte, ich war mir sicher sie hatte etwas für sich behalten. Zumindest konnte ich jetzt schon einmal schließen, dass der Ring von ihrer Mutter stammte, die verstorben war.Es war Abend und es wurde dunkel außerhalb. Ich rief die Kinder zusammen und brav folgten sie mir ins Haus. Der Essenswagen stand schon bereit und alle gesellten sich an die Tische, ungeduldig und mit dem Geschirr klappernd. Es dauerte eine Ewigkeit, bis alle etwas zu Essen auf ihrem Teller fanden, eine Ewigkeit in der ich nachdachte. Hatte Hope wirklich alles erzählt? Warum hatte sie noch nie ein Wort gesprochen? Es lag doch wohl kaum am Tod der Mutter... Und warum war ihr der Ring so wichtig? Hing sie doch so sehr an dem Tod und war dies ihre Erinnerung an ihre Mutter? Was für ein Geheimnis verbarg Hope? Was für ein -Louise!- Geheimnis verbarg dieses -Louise!!- Mädchen...?
"Louise!!!", Amy weckte mich aus meinen Gedanken.
"Ja?"
"Wo ist Hope?" Es brauchte einen Moment bis ich verstand. Ich blickte um mich und, tatsächlich, Hope war nirgends zu sehen. Ich wurde ein wenig panisch, versuchte ruhig zu atmen. In dem ganzen Trubel hatte ich nicht auf sie geachtet, sie ein wenig vergessen. Ich stand auf, blickte durch den ganzen Saal, doch Hope war nicht aufzufinden. Ich rannte in die Halle, durchsuchte alle möglichen Verstecke und Ecken. In den Fluren öffnete ich jede Tür und warf einen Blick in die Zimmer. Alle waren leer. Ich machte meinen Weg wieder nach unten und anschließend nach draußen. Da saß sie. Hope saß in der Dunkelheit an die Fassade des Hauses gelehnt. Sie hielt einen Stift in der einen und ein Buch in der anderen Hand.
"Hope, was machst du hier?", so langsam fragte ich mich, warum ich eigentlich immer solche Fragen an sie stellte, Antworten würde ich von diesem Kind sowieso nie erfahren.
Ich streckte meine Hand aus, doch anstatt diese zu nehmen blieb Hope sitzen. Sie rührte sich kaum, starrte das Blatt an. Als ich mich neben sie setzte, schlug sie das Buch zu. Auf dem Deckel war in großen, goldenen Lettern das Wort 'Diary' zu erkennen. Ich drehte mich zu ihr, um sie wieder ins Haus zu bitten. Ich schaute in ihre Tiefblauen Augen und da sah ich es. Von kleinen Kindern häufiger zu erleben, doch in diesem Moment verblüffte es mich. Von diesem Kind verblüffte es mich. Aus ihren winzigen, wunderschönen Augen flossen Tränen. Erst eine, dann zwei, dann mehr. Sie waren groß wie Regentropfen und kullerten ihre blassen Wangen hinunter, über ihr Kinn und tropften schließlich auf ihre zitternde Hand. Lange tat ich nichts, schaute sie nur an. Sie war so hübsch und sah so zerbrechlich aus. Alles an ihr war blass, ihr Gesicht, ihre Hände, ihre Haare. Ich schaute zu, wie sich ihre Wangen leicht rot färbten. Dann plötzlich ließ sie sich nach vorne fallen, direkt auf mich zu. Ihr Kopf landete sanft auf meiner Brust und ich legte meine Arme um sie und hielt sie fest. Ich hörte ihr leises Schluchzen und spürte die nassen Tränen auf meinem Kleid. Wir verharrten so eine Weile. Sie auf meiner Brust und ich mit meinen Armen um sie geschlungen, als würde ich sie vor etwas beschützen. Vielleicht tat ich dies ja auch in diesem Moment, ich konnte es nicht wissen und würde es vielleicht nie wissen.
"Louise, wo bleiben sie denn? Die Kinder haben fertig gegessen!"
"Ich komme schon, Madam."
Ich hob sanft den Kopf von Hope an und nahm ihn zwischen meine Hände. Ich schaute ihr tief in die Augen, sie in meine. Ihr Gesicht war nass, die Augen gerötet.
"Was ist passiert, Hope? Bitte sag es mir, ich möchte dir helfen.""Gute Nacht ihr Lieben! Schlaft gut und macht keine Unheiten!"
"Gute Nacht Louise.", antworteten die Kinder im Chor, dann schloss ich die Türen. Ich brachte Hope in mein Zimmer, zog sie um und brachte sie ins Bett. Als ich mich noch einmal an der Tür umdrehte, lächelte sie mir zu.
Ich machte meinen Rundgang, durchsuchte das Gebäude und ging hinaus. Ich leuchtete mit der Taschenlampe in alle Ecken, zum Tor und den Gebüschen die es zierten und ging schließlich wieder hinein.
"Louise?", ich schreckte herum. Ich hatte Madam Paddisson beim Hineingehen nicht bemerkt.
"Ja?"
"Ich habe ein wenig erfreuliche Neuigkeiten. Meine Tante ist vor ein paar Tagen gestorben."
"Das nennen sie erfreulich?"
"Das war ja noch nicht alles. Wie sie wissen, habe ich keine Geschwister und meine Eltern sind schon gestorben. Seit mehreren Jahren ist sie Witwe, weshalb sie mich zum Erben ihres Eigentums ernannt hat. Ich kannte sie kaum, weshalb ich auch von ihrem gesellschaftlichen Stand nichts weiß, doch es ist möglich, dass bei dem Erbe noch etwas mehr als nur altes Geschirr vorhanden ist. Bereits morgen werde ich mich dorthin begeben und schauen, was ich finden kann. Sollte etwas wertvolles dabei sein, werde ich es auf dem Markt verkaufen und das Geld für das Waisenhaus verwenden. Was halten sie davon?"
"Heißt das, dieses Waisenhaus wird vielleicht davon einen Gewinn machen?"
"Je nachdem, was dem Erbe beiliegt kann das schon sein."
"Das sind sehr erfreuliche Neuigkeiten, Madam. Aber... mein Beileid wegen ihrer Tante."
"Ach, ich kannte sie doch wie gesagt kaum. Für mich ist sie kein schwerer Verlust."
![](https://img.wattpad.com/cover/219390278-288-k90830.jpg)
DU LIEST GERADE
Der Bann der Juwelen
Short StoryEine Mitarbeiterin aus einem Waisenhaus in London trifft auf ein ungewöhnliches Mädchen. Es spricht nicht und besitzt einen seltsamen Ring, den es um alles auf der Welt beschützt...