~Part 1~

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Wie jeden Abend machte ich meinen Rundgang durch die leeren Flure, gefüllt von leisem Kichern aus den angrenzenden Zimmern. Leuchtete in die Küche, ob nicht doch noch jemand einen Mitternachtssnack zu sich nahm. Betrat die Gemeinschaftsräume, die zu dieser Uhrzeit unheimlich leer und still wirkten und schaute zuletzt noch auf dem Grundstück nach, ob auch wirklich alle den Regeln Madam Paddisson's folgten. Es war ein Abend wie jeder andere auch. Im Haus entdeckte ich niemanden und auch draußen vernahm ich nichts. Fast nichts.
"Hallo? Ist da wer?" Aus der hinteren Ecke hörte ich ein Rascheln. Es regte sich nichts. Ich war auf dem Weg zurück, als es wieder raschelte, diesmal vernehmbar lauter. Ich schreckte herum, die leichte Angst in mein Gesicht geschrieben. Ich leuchtete durch die Gebüsche, konnte nichts erkennen, als plötzlich ein kleiner Kopf aus dem Gebüsch direkt neben dem Eingangstor hervorragte. Dann der Oberkörper und schließlich auch die Beine. Mehrere Meter von mir entfernt stand eine Person, ein Kind, von der Größe her anzunehmen. Lange standen wir beide so dort, starrten uns an, regten uns nicht.
"Wer bist du?", fragte ich schließlich, ich war kein Freund des Anschweigens. Ich bekam keine Antwort. Diese kleine Kreatur starrte mich nur an, bewegte sich nicht.
"Wer bist du?", fragte ich erneut, diesmal etwas lauter. Doch die Lautstärke schien nicht der Grund gewesen zu sein. Ich bekam keine Antwort, doch machte es den Anschein, als würde die Person auf mich zugehen, langsam, etwas zaghaft. Als sie in den Schein des Mondes trat, erkannte ich, dass es ein kleines Mädchen war. Die langen blonden Haare waren zerzaust und fielen schrecklich an ihren Schultern herab. Der Körper wurde durch ein langes, durch Dreck und Staub kaum noch weißes, Nachthemd geziert. Mit bloßen Füßen stand das Mädchen im Dreck, die Arme und Beine waren dünn und zerbrechlich, das Gesicht kaum zu erkennen. Auch hier überdeckten Staub und Dreck den wahren Anblick. Der Körper war von Schrammen und Wunden bedeckt, der ganze Leib zitterte, trotz lauwarmer Sommernacht. Man konnte sagen, dies war kein schöner Anblick. Doch trotz dessen, wirkte etwas an ihr seltsam, edel und besonders. Mein Blick schweifte über ihre Hände und ich entdeckte einen smaragdfarbenen Ring. Er zierte den Ringfinger ihrer rechten Hand, welche zur Faust geschlossen war.

"Louise, was soll das? Sie wissen, wir haben kaum Betten und an Essen fehlt es uns auch. Wir haben keinen Platz für noch so eine Kreatur, wann verstehen sie das denn?"
Ich stand vor Madam Paddisson, das kleine Mädchen an meiner rechten Hand.
"Es tut mir leid Madam, nur schauen sie sich dieses Kind doch einmal an! Die Kleidung, das Gesicht, die Haare. Und zudem spricht sie nicht ein Wort. Was glauben sie, was mit ihr passiert, wenn wir sie wieder hinausschicken? Das überlebt sie keine drei Tage!"
"Ja ja, aber verstehen sie doch, wir haben nun mal keinen Platz! Selbst wenn ich dieses Kind würde aufnehmen wollen, wo soll es dann schlafen? Von was sollen wir es ernähren?"
"Schlafen kann sie doch vorübergehend bei mir. Mein Zimmer ist ausreichend für zwei und mit dem Essen werden wir schon eine Lösung finden! Bis jetzt hat es doch auch immer gereicht und eine Person mehr wird da schon keine große Veränderung herbeibringen."
"Louise, sie sind eine Meisterin der Überzeugung und Güte. Na los, gehen sie schon zu Bett. Und vergessen sie das Mädchen nicht!"

Ich durchforstete meinen nicht sehr großen Schrank und zog schließlich ein altes Kleid von mir heraus. Es war mir schon längst zu klein, doch war es eine Erinnerung an meine Kindheit und hatte ich es nie über's Herz gebracht es zu verkaufen. Nun hatte es eine neue Verwendung, was mich ziemlich glücklich machte. Ich half dem kleinen Mädchen beim Umziehen, wobei es zu meiner Überraschung brav mitmachte. Es stand ihr ausgezeichnet und auch ihr schien es zu gefallen. Nachdem ich am Abend zuvor mit Vergeben nach ihrem Namen fragte, entschied ich mich anschließend für 'Hope', den Namen meiner verstorbenen Schwester. So ließ sie mich an meine Schwester und Kindheit erinnern und anstatt mich zu Tränen zu bringen, zeichnete Hope so ein Lächeln auf mein Gesicht.
Es war noch früher Morgen, doch ich machte mich wegen meiner Arbeit schon auf den Weg nach unten. Hope nahm ich mit, sie sollte die anderen Kinder kennenlernen, um vielleicht so ihre Stimme zurückzugewinnen.
Madam Paddisson war bereits auf den Beinen und scheuchte die Küchenhilfe durch die Gegend. Durch den starken Geldmangel in diesem Waisenhaus gab es außer mir nur die Küchenhilfe Grace. Madam Paddisson kochte selbst, mit ein wenig Hilfe von Grace. Meine Aufgaben in diesem Haus waren die Morgen- und Nachtrundgänge und die Aufsicht der Kinder über den ganzen Tag mit gelegentlicher Hilfe von Madam Paddisson. Neben dem Klappern aus der Küche hörte ich schon einige der Kinder, wartend darauf, von mir abgeholt zu werden. Ich nahm Hope bei der Hand und stieg die große Treppe hinauf in Richtung Jungenflur. Ich klopfte an jede Tür und rief dazu Befehle, für mich nicht sehr leicht, mir hingen die Kinder sehr am Herzen und es war mir unangenehm sie anzuschreien und zurechtweisen, doch ich musste meiner Pflicht nachgehen. Nachdem ich ein wenig gewartet hatte, öffnete ich schließlich alle Türen, um den Jungen Zutritt in den Flur zu lassen. Von dort aus rannten sie rücksichtslos die Treppe hinunter in die Küche, wo Madam Paddisson sie wütend entgegennahm und um Ruhe bat. In dieser Zeit blickte ich in jedes Zimmer, um mich zu vergewissern, dass alle aus den Betten waren. Pro Zimmer befanden sich 10 Betten, auf engstem Raum zusammengestellt. Mir tat es leid für die Kinder, doch gab es keine andere Lösung. Anschließend wiederholte ich meine Prozedur bei den Mädchen. Auch hier stürmten fast alle in hoher Geschwindigkeit nach unten in die Küche und außer ein paar kurzen, verwirrten Blicken nahm kaum jemand Hope wahr. Zusammen gingen wir zu den anderen Kindern nach unten und gestellten uns an einen Tisch zum Essen des selben Haferbreis seit 4 Jahren. Während ich mein Essen zu mir nahm, kam Hope kaum zu ihrem, die anderen Kinder waren doch zu neugierig.
"Wie heißt du?"
"Wie alt bist du?"
"Woher kommst du?"
"Warum sagst du denn nichts?"
"Louise, warum spricht sie nicht?"
"Lasst sie erst einmal essen, ihr könnt sie ja später noch fragen!", antwortete ich schnell, doch ich wusste, dass sie auch dort keine Antwort bekommen würden.

Der Bann der JuwelenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt