"Also wirklich Louise, was stellen sie bloß immer an, dass sie andauernd in irgendwelche Schwierigkeiten geraten? Wie soll ich denn zwei Tage lang mit den ganzen Kindern ohne sie auskommen?"
"Bitte, Madam Paddisson, ich kann doch nichts dafür. Ich muss Hope doch helfen, von all dem befreit zu werden. Und es sind nur zwei Tage, das schaffen sie."
"Sie haben gut reden, schließlich sind sie nicht diejenige, die diese zwei Tage hier die Stellung halten muss. Aber nun, es geht um das Wohl des Kindes und ich weiß, dass ich sie sowieso nicht davon abhalten kann. Also ja, aber nach zwei Tagen sind sie wieder hier!"
"Natürlich. Vielen Dank!"
Ich schlüpfte in mein blaues Alltagskleid, half Hope sich anzuziehen und nahm sie bei der Hand. In einer Stunde würde uns die alte Dame erwarten und ich musste mich noch fertigmachen. Während ich aufgewühlt durch die Gegend lief, Sachen vergaß und mich mehrere Male vor dem Fallen hielt, schaute Hope mir nur still zu und bewegte sich nicht. Wir liefen die große Treppe hinunter in die Küche, wo wir beide uns einen Teller Haferbrei von Grace abholten, welche schon seit einigen Stunden vor dem Herd stand.
"Bereit? Wir werden einige Stunden bis zum See wandern müssen, ohne Pause, sonst schaffen wir es nicht rechtzeitig." Die Dame, welche übrigens Helen hieß, trug einen langen, dunkelgrünen Rock, der am Saum dem Schmutz nicht ganz bewahrt gewesen war. Ihre weiße, schon leicht dunkel verfärbte, Bluse hatte sie in den Rock gesteckt. Trotz angenehm warmen Sonnenschein hatte Helen einen dünnen Wollschal um ihre Schultern gelegt. Er war hellbraun und an den Spitzen ein wenig bestickt.
Wir liefen in den Wald hinein, doch bevor wir zu Helen's Hütte gelangten bogen wir nach links, tiefer in den Wald. Die Bäume wehten leicht im Wind, durch das dichte Blätterdach der Baumkronen gelangten nur ab und zu ein paar Sonnenstrahlen zu unserer Lichtung. Je länger wir liefen, desto dichter standen die Bäume aneinander und desto schmaler und unebener wurde der Pfad, welchen wir überquerten. Meine Schuhe waren nicht die besten für einen Marsch von mehreren Stunden. Ich hatte meine Alltagsschuhe an, kastanienbraun, schmal geschnitten und mit einem leichte Absatz von zwei Centimetern. Auch wenn dies nicht viel für einen Absatz war wusste ich, dass es nach ein paar Stunden schmerzhaft erden würde.
"Hier habe ich als kleines Kind immer gespielt, bis ich weggehen musste.", unterbrach mich Helen aus meinen Gedanken.
"Was meinen sie mit weggehen?" fragte ich sie.
"Ich habe hier mit meinen Eltern gelebt. Unser Haus stand nicht weit entfernt von hier, mitten im Wald. Jeden Tag bin ich hier zum Spielen hingelaufen, während meine Mutter versucht hat, etwas essbares zu finden. Sie müssen wissen, wir waren sehr arm, weshalb wir auch nur eine kleine Holzhütte bewohnen konnten. Eines Tages, ich war wieder im Wald spielen, hatte meine Mutter Pilze gefunden. Während sie diese über offenem Feuer, so wie immer, kochte, fing plötzlich etwas an zu brennen. Ich kann ihnen nicht sagen was, ich war schließlich nicht dabei. Da das Haus aus nichts anderem als Holz bestand brannte es bald lichterloh. Ich roch plötzlich das Feuer und sah den ganzen Rauch, weshalb ich schnell zurück rannte, doch leider zu spät. Das ganze Haus ward abgebrannt und meine Eltern tot. Da unser Haus direkt auf einer Lichtung stand und somit einen kleinen Kreis ohne Bäume um sich herum hatte, schafften es noch rechtzeitig ein paar Feuerleute aus dem naheliegenden Dorf, zu dem Haus zu gelangen und konnten, bevor es zu einem Waldbrand kam, die brennende Bleibe löschen. Mich nahmen sie anschließend mit, ich war ja schließlich noch sehr klein und hatte anschließend keine Eltern und kein Haus mehr. Eine sehr freundliche Familie nahm mich auf. Doch war ich dort eines von 14 Kindern und so wurde ich bald in ein Waisenhaus geschickt, weit weg von dem Dorf und dem Wald. Dort wurde ich nicht so herzlich behandelt wie in der Familie davor. Sie müssen wissen, Waisenhäuser damals sind keinesfalls vergleichbar mit denen heute. Damals gab es noch den Schlagstock und der wurde bei Belieben gerne und häufig eingesetzt. Ich verbrachte dort einige Jahre unter schlimmen Bedingungen, bis ich eines Tages mit 17 Jahren meine paar Sachen packte und floh. Ich wollte einen Neuanfang, mit dem Tod meiner Eltern endlich abschließen und beschloss so, in ein Haus im Dorf zu ziehen. Doch ohne Geld war dies nicht so einfach. Ich suchte mir also einen Mann. Dieser hatte genügend Geld, um uns eines der Häuser zu kaufen. Wir hatten nie Kinder, wir waren glücklich wie wir waren, bis er eines Tages zur Arbeit ging und nie wiederkam. Ich wartete zwei Jahre auf seine Rückkehr, vergeblich. Anschließend beschloss ich, wieder in den Wald zu ziehen, um meinen Eltern wieder ganz nahe zu sein. Und so baute ich mir eine Hütte, in der ich noch heute lebe. Ich hatte nie wieder einen Mann, ich war glücklich wie ich war und konnte noch einen Verlust nicht ertragen."
Ich war sprachlos. Helen's Geschichte war unfassbar bewegend und hatte mich beinahe zu Tränen gerührt. Eine Weile sagte ich gar nichts, ich musste all das erst einmal verdauen. Ihre ganze, schreckliche Vergangenheit und was sie alles durchgemacht hatte.
"Es ist unfassbar mutig von dir und echt bewältigend, was du alles durchgemacht hast, Helen. All die Verluste und am Ende doch wieder in den Wald, den Ort des Todes deiner Eltern, zu ziehen, das hätte ich nicht geschafft."
"Ich weiß, aber so konnte ich damit abschließen. So wie andere in eine ganz andere Stadt dafür ziehen, brauche ich die Nähe der Verstorbenen und es macht mich glücklich zu wissen, dass ich meinen Eltern hier im Wald ganz nah bin."
Wir liefen weiter in einer endlosen Stille. Ich traute mich nicht mehr noch etwas dazu zu sagen und konzentrierte mich stattdessen auf den unebenen Weg, um nicht zu stolpern. Hope lief wie immer still neben mir. Von der Seite war es schwer zu deuten, doch ich meinte ein schmales Lächeln in ihrem Gesicht vernehmen zu können. Sie hatte eine unbeschreibliche Schönheit an sich, die mich immer wieder zum Lächeln brachte. Ich wusste, dieses Mädchen musste ich für immer beschützen.
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Der Bann der Juwelen
Cerita PendekEine Mitarbeiterin aus einem Waisenhaus in London trifft auf ein ungewöhnliches Mädchen. Es spricht nicht und besitzt einen seltsamen Ring, den es um alles auf der Welt beschützt...