Kapitel 2

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Pov Myra Valerian

„Myra. Wir haben einen Notfall.“ Ein Notfall. Ich seufzte leise. Warum musste es immer Notfälle mitten in der Nacht geben? Ich quälte mich aus dem Bett und sah meinen Assistenten Raziel auffordernd an. Er lief knallrot an und verbeugte sich hastig, bevor er nach draußen verschwand.

Ich gähnte und griff nach einer grünen Tunika und einer geschmeidigen Lederhose. Dann schlüpfte ich in meine Stiefel und band mir hastig die roten Locken zu einem einfachen Zopf zusammen, bevor ich Raziel nach draußen folgte.

Die Nacht war angenehm kühl, eine seltene Abwechslung in Lakania. „Was ist passiert?“, fragte ich Raziel, der mich durch die nächtlichen Straßen Asranils führte. „Es gab einen Angriff in Talian. Ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber es sind viele verletzt worden.“

Ich beschleunigte meine Schritte, bis ich beinahe rannte. Das war nicht gut, überhaupt nicht gut. Ein Angriff auf die königliche Festung? Konnte es etwas mit dem Bann zu tun haben? Wenn es zu Verletzten gekommen war, musste etwas wirklich Ernstes geschehen sein.

Meine Gedanken kreisten besorgt um die Verletzten und ich merkte gar nicht, dass ich Raziel beinahe abgehängt hatte. Als Mensch war der Junge lange nicht so ausdauernd wie ich. Ich wartete, bis er wieder aufgeholte hatte, was er dankbar zur Kenntnis nahm.

Zum Glück war es nicht mehr weit bis zum Palast. Zwei verängstigt aussehende Wachen erwarteten uns, versperrten uns jedoch pflichtbewusst den Weg. „Aus dem Weg“, forderte Raziel, doch sie rührten sich nicht von der Stelle. „Tut mir leid, aber wir haben Anweisung erhalten, niemanden reinzulassen.“
Ich funkelte sie gefährlich an. „Ihr hört mir jetzt Mal zu. Ich bin eine Heilerin und eine Magierin. Also entweder Ihr lasst uns jetzt durch, oder ich werde mir Zutritt verschaffen.“ „Droht Ihr uns?“ „Ja... los jetzt“, zischte ich und die beiden warfen sich unsichere Blicke zu. Ich ließ ihnen die Zeit, die richtige Entscheidung zu treffen und endlich traten sie zur Seite. „Ich werde Euch begleiten“, verkündete der Linke und ich zuckte ungeduldig mit den Schultern.

„Dann macht schnell. Uns läuft die Zeit davon“, brummte Raziel und wir folgten dem Wachmann.

Noch bevor wir den Ort des Fiascos überhaupt erreichten, schlug uns der Übelkeit erregende Geruch von Blut, Erbrochenem und Tod entgegen.

Der Mann drückte sich einen Ärmel vor den Mund und blieb stehen. Er war aschfahl im Gesicht und sah aus, als würde er sich im nächsten Moment übergeben. „Bleibt hier. Wir kommen allein zurecht“, lächelte ich, um ihn aufzumuntern und sein Misstrauen abzuschwächen.

Mein Lächeln verschwand jedoch im nächsten Moment wieder, als er nickte und Raziel und ich den Raum betraten, der als Vorraum zur Kammer der Lehre diente.

Ich blieb wie angewurzelt stehen, bei dem Anblick, der sich mir bot. Obwohl ich an verletzte Menschen gewöhnt war und sicher schon einige Leichen gesehen hatte, war das hier schlimmer als Alles, was ich je erlebt hatte. Bestimmt fünfzehn Männer lagen in ihrem eigenen Blut.

Entweder so schwer verletzt, dass sie besinnungslos waren oder tot. Raziel strauchelte und musste sich festhalten, was mich wieder zur Besinnung brachte. Ich fasste ihn an den Schultern und zwang ihn, mir ins Gesicht zu schauen. Seine blauen Augen richteten sich verzweifelt auf mich und ich vermutete, dass er erleichtert war, den Blick von dem Massaker abwenden zu dürfen.
„Wir müssen diesen Männern helfen, hörst du?“ Er starrte mich nur an und ich schüttelte ihn leicht. „Raziel, bitte, ich brauche deine Hilfe. Komm schon!“

Ich dachte schon, ich hätte keine Chance, ihn aus seiner Schockstarre zu holen, als er schließlich nickte. Ich lächelte schmal und klopfte ihm auf die Schulter. „Was soll ich tun, Myra?“ „Ich möchte, dass du gehst und saubere Leinen und Wasser holst und so viel Bier wie du auftreiben kannst. Ich werde einige heilen können, aber sie werden Stärkung brauchen und viel Pflege nach der Heilung.“ Er verbeugte sich leicht und eilte davon.

Damit ließ er mich allein mit den Verletzten und Toten. Für einen Moment sammelte ich mich, dann ließ ich mich im Schneidersitz auf dem Boden nieder. Ich schloss die Augen und ließ meinen Geist nach Lebenden in diesem Raum tasten.
Da! Ich fühlte einen Funken Leben in einem der Männer. Er war auf der Schwelle zum Tod und es würde mich eine immense Kraft kosten, ihn zurückzuholen.

Es würde ein starker Zauber von Nöten sein. Ich durchforstete mein Gedächtnis nach einem Spruch, der mächtig genug wäre. Ah, ja. Ich hatte genau das Richtige.

Ad sanandum potentiam“, murmelte ich und spürte, wie die Kraft aus mir hinaus floss. „Ad sanandum potentiam.“ Mit jeder Wiederholung schlossen sich die Wunden des Mannes weiter und ich sackte gegen die Wand. In diesem Moment kehrte Raziel mit einigen Helfern zurück und ich öffnete die Augen. Er kniete sich neben mich und schaute besorgt, ob mir etwas fehlte. „Ich werde deine Kraft brauchen. Darf ich?“ Er nickte. „Natürlich. Ihr dürft immer, Myra.“ Ich lächelte kurz und begann dann, neue Energie aus ihm zu ziehen. „Ego tibi succurat.“

Beinahe augenblicklich wurde ich wieder stärker und kraftvoller, obwohl es mich eine ungeheure Konzentration kostete, zwei Zauber gleichzeitig aufrecht zu erhalten. Denn jegliche Energie, die ich von Raziel entnahm, leitete ich augenblicklich in die Verletzten, deren Heilung beinahe sofort einsetzte.

Letztendlich konnte ich auf diese Weise fünf Männer retten. Für den Rest hätte niemand mehr etwas tun können.

Raziel und ich waren bis auf den letzten Rest Energie ausgelaugt und lehnten an der Wand, nicht mehr dazu in der Lage, aufzustehen und zu gehen. Und so saßen wir auf dem kalten Boden, den Blick auf die Toten gerichtet, deren Augen in Grauen geweitet ins Leere starrten.

Tränen liefen dem Jungen die Wangen hinunter und ich griff nach seinem Arm. „Mach die Augen zu, Kleiner.“ Er schüttelte den Kopf. „Das wird nicht helfen.“ Ich seufzte und wusste genau, was er meinte. Die Bilder hatten sich in unser beider Gedächtnis eingebrannt.

„Ich werde dir helfen, in Ordnung?“ Zögernd nickte er und ich kratzte den letzten Rest Kraft zusammen, den ich aufbringen konnte, auch wenn ich danach vermutlich besinnungslos in einer Ecke zusammensacken würde.

Claudendo animo.“ Mit diesem Zauber verschloss ich seinen Geist vor den Bildern des Massakers und ließ ihn in einen tiefen Schlaf hinabsinken. Dann wurde es schwarz vor meinen Augen und ich spürte, wie ich an der Wand hinabrutschte.


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