Ich ließ einige Momente verstreichen in denen eine seltsam bedrückende Stille den Platz einnahm. Was tat ich hier eigentlich? Ich stritt mit meiner Schwester die ich seit Jahren nicht gesehen hatte wegen was? Fiel mir denn nichts besseres ein als aufzuwachen und mich sofort wieder mit Alkohol zu betäuben? Offensichtlich nicht. Offensichtlich war ich ein echter Idiot geworden, den man nur in Dosen wieder auf die Gesellschaft loslassen konnte. Und ich wünschte, das wüsste ich nicht schon längst.
Nachdem ich die Küche aufgeräumt hatte, nahm ich mir meine dreckige Jacke vom Sofa und beschloss Julie suchen zu gehen. Meine Wut war noch nicht ganz verflogen, aber das schlechte Gewissen dämpfte sie auf eine kleine schwelende Glut runter. Julie war wegen mir aus ihrer eigenen Wohnung geflüchtet! Das war falsch, nein! Es war absolut unakzeptabel. Wenn sich jemand verziehen musste, dann war ich das.
Ich verließ die Wohnung, bereit die Stufen im mit Teppich gedämpften Treppenhaus runterzustürzen, als ich auch schon inne hielt. Ich war nicht weit gekommen, da entließ ich meinen Atem zischend, und sah auf die schmale Gestalt vor mir hinunter. Auf der untersten Stufe der Treppe saß Julie mit angezogenen Beinen und dem Rücken zu mir. Erneut verpasste mein schlechtes Gewissen mir einen Stich, obwohl ich insgeheim auch erleichtert war das sie nicht wirklich weggelaufen war. Ich biss mir auf die Oberlippe und ging dann in etwas gemäßigterem Tempo zu ihr die Stufen runter. Mir brannte eine Entschuldigung auf den Lippen, als ich mich langsam neben sie setzte. Ich wollte so viel sagen, mich erklären, ihr mein Wesen offenbaren, aber eine innere Barriere hinderte mich. Wie eine Zwangsjacke drückten mich die Worte zusammen, bildeten eine nach außen geschlossene Hülle, in der ich denken mochte was ich wollte. Es kam kein Ton aus mir. Sie sah mich nicht mal an, rückte nur etwas ab und wandte bewusst den Kopf zur anderen Seite. Einzelne Haarsträhnen waren ihr aus dem Zopf genutzt und fielen ihr nun unordentlich über das Ohr. Ich seufzte müde und unglücklich und erneut fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat. Mir war schwindlig und der Kopfschmerz kehrte zurück, nicht hätte ich lieber getan als jetzt einfach wieder zu schlafen und zu vergessen. Aber nicht jetzt! Ich biss mir auf die Zunge und fuhr mit mit der Hand durchs Haar. Schlag ins Gesicht oder einen Schluck brennenden Fusel hätte ich jetzt gebraucht, aber ich raffte mich auch so halbwegs auf. „Hör mal, Julie. Es tut mir leid, dass ich dich eben so angefahren habe. Es ist gerade... nicht besonders leicht für mich und ich... ach, verdammt-" Es war selten das mir derart die Worte fehlten. Bei Lügen war ich stets redegewandt aber bei der Wahrheit fehlten mir nun die Worte. Ich wusste nicht, wie ich mein Verhalten erklären sollte. „Geh...", sagte Julie leise, aber voll entschiedener Selbstsicherheit. Erst meinte ich sie nicht richtig verstanden zu haben, bis dieses kurze Wort in mein Bewusstsein sickerte. Und damit auch seine Bedeutung. Sie wollte keine Erklärung hören oder eine Entschuldigung. Ich hatte das hier verspielt. „Also ich will sagen, dass ich-", setzte ich noch einmal eilig an.
„Ich sagte ‚geh'! Geh jetzt, Stefan! Ich will dich hier nicht mehr sehen. Verschwinde! Du hast schon genug gesagt!", schrie sie mir plötzlich entgegen und es traf mich wie eine Ohrfeige. Wie benommen wich ich etwas zurück, blinzelte wortlos und versuchte meinen plötzlich ausgedörten Hals zu befeuchten. Freurige Wut machte sich in mir breit und ich konnte meinen düsteren Blick nicht verbergen. Natürlich konnte Julie nicht verstehen das Wut nur die Reaktion auf ein ganz anderes Gefühl war, welches sich ebenfalls in mir wand. Nämlich Schuldgefühle und Verletzlichkeit, die einen unbarmherzigen, schmerzhaften Knoten bildeten. Sie sah mich an, musterte mich als würde sie mich heute das erste Mal sehen, und es gefiel ihr nicht, was sie da sah. Einen heruntergekommenen Straßenköter, dessen Schwellungen sich langsam grün und blau färbten und mit Verletzungen von seinem letzten Käfigkampf. Ein grobschlächtiger Mistkerl vor dem Mütter ihre Töchter warnte und die nachts in dunklen Gassen lungerten und auf ihr nächstes leichtsinniges Opfer aus irgendeinem billigen Nachclub wartete. Ja, so sah ich für sie aus... verdammt ich was so ein Typ! Sie tat gut daran mich wegzuschicken. Und bevor ihr scheuer Blick mich noch mehr entblätterte, noch weiter in meinen düsteren Ausdruck eindrang, als er es gerade sowieso schon tat, sprang ich auf und joggte die Treppen runter.Ich musste hier weg. Raus! Frische Luft schnappen! Schläge üben bis meine Knöchel bluteten, das Brennen spüren. Das musste ich. Dieses Gebäude engte mich plötzlich ein, verursachte ein unangenehmes Kratzen in meinem Hals. "Thomas ist vor vier Tagen gestorben..." Und nochmal verpassten mir Julies Worte eine Ohrfeige. Ich taumelte, musste mich einen Moment mit der Hand an der Wand abstützen. "Übermorgen findet seine Beerdigung statt. Ich dachte, dass interessiert dich vielleicht, da Derren dich nicht erreichen konnte um es dir früher zu sagen." Meine Welt drehte sich und ich hörte mein eigenes Keuchen wie in einem großen leeren Raum. Mein Vater... Thomas McConnell... war tot. Wie konnte das sein? WIESO? Gerade er!
Ich glaubte mit einem Mal ersticken zu müssen. Hätte mich am liebsten zu Julie umgedreht, um zu fragen, wie es geschehen war, aber wieder konnte ich nicht. Es war wie eine Barriere die mich in Ketten hielt. In meinen Ohren rauschte das Blut, machten alles dumpf und leise um mich herum. Ich zwang mich weiter zu gehen. Ein Schritt, ein weiterer, dann schaffte ich es doch mich halb zu Julie umzuwenden und in ihre traurigen Augen zu schauen. „Wurde ja auch mal Zeit das der Alte das zeitliche segnet. Hab mich schon gefragt wie lange der alte Sack das noch macht." Meine Stimme troff vor falschem Hohn und statt meine Gefühle zu überspielen wirkte es wie ein schlecht einstudierter Text in einem Film. Es fühlte sich so absolut falsch an es zu sagen, dass ich mir dafür erneut auf die Zunge biss. Ich konnte Julie nicht in die Augen sehen. Bevor der Schock sich in ihrem Gesicht ausbreiten konnte lief ich wieder los. Beweglicher diesmal, den der Drang nach Luft war wieder da. Ich musste hier raus. Raus aus diesem Treppenhaus, raus aus dieser Wahrheit... Meine Schritte fühlten sich schwer und langsam an, und als ich fluchtartig das Gebäude verließ dachte ich zusammenzubrechen. Ich lief los, rannte los, irgendwo hin. Mein Vater war tot. Dieser starke Mann, der uns, seine Familie, immer beschützt hatte. Wie konnte er einfach sterben? Einfach so, wie ein ganz normaler Mensch? Ich massierte im Lauf mein Brustbein in der Hoffnung es würde die plötzliche Enge und den Schmerz bei jedem Luftzug lindern. Die Luft war frisch, aber nicht kalt. Perfekt, aber nicht atembar. Ich hustete. Wie in einem Schraubstock versuchte ich tiefe Atemzüge zu nehmen und spürte bei jedem Atemzug ein alt bekanntes Rasseln, während mein Herz in meiner Brust raste. Mein Vater... war tot... "Nein", keuchte ich tonlos in einem Schluchzer ohne Tränen. "Nein, nein, nein, nein..."
Meinen Hals und meine Brust reibend schaffte ich es in einen Bus nach irgendwo. Den Kopf an ein Fenster gelegt kam ich zu Atem. Irgendwie schaffte ich es nach Hause zu kommen, ohne richtig mitzubekommen was um mich herum geschah. Autos, Verkehr, Lichter. Ich überquerte als Ameise unter Ameisen Straßen, folgte wie ein Zombie dem Bürgersteig, als würde mich ein unsichtbares Band heim ziehen. Alles wirkte fade und grau, denn mein Vater war tot. Er war gegangen, ohne sich verabschiedet zu haben. An einen Ort, den ich nicht erreichen konnte. Weit weg, zu weit für ein Menschenleben. Und er war einfach so verwunden. Als wäre die Welt ohne ihn ein Stück dunkler und kälter geworden. Mein starker, lebensfroher Vater, der immer mein Vorbild gewesen war, der mich in den finstersten Stunden gehalten und meine Tränen getrocknet hatte, wenn ich als Kind weinte. Er war nun tot. Und ich hatte es nicht einmal mitbekommen.
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Soldiers Eyes
RomanceAls am 30. April 1975 der Vietnamkrieg endete, kehrte der mittlerweile 28 jährige Stefan McConnell, scheinbar unverändert aus seinem vierjährigen Dienst nach Boston zurück. Mit Witz und Charme versucht er das offensichtliche zu überspielen; dass er...