Kapitel 2 - Benommenes Wiedersehen

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Ich erwachte langsam und mich begrüßte ein Kopfschmerz, wie ich ihn nur selten zuvor erlebt hatte. Als hätte mir jemand mit voller Kraft gegen den Kopf getreten. Andererseits war ich mir nicht mal sicher, dass das nicht passiert war. Der Schiefe Jon war nicht gerade zimperlich gewesen - als hätte ich das von ihm erwartet. Ich erinnerte mich an die ersten Faustschläge, zwei ins Gesicht, einen in die Magengegend und ein letzter gegen die Schulter. Danach verschwamm alles in meiner Erinnerung zu einem schmerzenden Brei, in dem ich zwar einzelne Bewegungen sah, diese aber nicht zu einem Gesamtwerk zusammenfügen konnte. Klar war; Ich hatte den Kampf verloren. Aber das war nicht allzu verwunderlich, ich hatte selbst damit gerechnet, während ich Murphy nach jedem Schlag angegrinst und provoziert hatte.

Das zweite was ich wahrnahm war der verlockende Geruch nach gebratenem Ei und Speck. „Oh Mama, richt das gut...", rutschte es mir unverständlich über die geschwollenen Lippen, dass nicht mal ich selbst es richtig verstand. Knurrend meldete sich mein Magen zu Wort und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Wann hatte ich eigentlich das letzte mal was gegessen? Gestern Mittag vielleicht, ich war mir nicht sicher. „Hey! Auch schon wach?", fragte eine weibliche Stimme, die mir zwar im erst Moment nicht bekannt vorkam, was aber im Anbetracht meines Zustandes nichts heißen musste. Die Stimme war freundlich, jung und gab mir sofort ein gutes Gefühl von Vertrautheit. „Hm, Mira?", riet ich fragend und versuchte die Augen zu öffnen, damit ich mehr sehen konnte als nur ein verschwommenes Abbild meiner Umgebung. Die Person ließ sich schwer zu meiner Seite auf die Bettkante nieder. „Nein, nicht ganz.", meinte die Person amüsiert. Ich probierte mich an einem schiefes Lächeln, was gerade wirklich nicht wirken konnte. „Bea!", riet ich weiter und hob tastend eine Hand unter der Wolldecke hervor mit der ich bedeckt war. Zwei zierliche Hände griffen nach meiner und hielt sie warm auf ihrem Schoß. „Auch falsch.", antwortete die junge Frau, was mich kurz stutzen ließ. Ich überlegte, kramte in meinen Kopf zu welche Frauen ich in letzter Zeit noch so intensiven Kontakt habt hatte wie zu diesen beiden. War mir denn wirklich jemand entfallen? Normalerweise passierte mir so etwas nicht. „Ju... dith?", fragte ich nun ernsthaft verunsichert. Judith hatte ich seit knapp einen Monat nicht mehr gesehen und das letzte Mal war auch eher kurz und unterkühlt gewesen. Ein genervtes Seufzen wurde ausgestoßen. Ich lag wieder falsch. „Weißt du, wenn du nicht sowieso schon aussehen würdest wie ein zerbeulter Mülleimer würde ich dir jetzt am liebten eine auf den Kopf hauen.", kam es beleidigt hinterher und ließ mich mit einem schlechten Gewissen zurück. Hatte ich wirklich jemanden vergessen? War mein Gedächtnis denn so verwirrt? „Andererseits... ist es wahrscheinlich nicht deine Schuld. Immerhin haben wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Das letzte mal war Weihnachten 73. Wie solltest du dich da auch an mich erinnern. Außerdem kannst du dich bestimmt nicht an gestern erinnern.", räumte die Frau niedergeschlagen ein und tätschelte meine Hand als würde sie mir einen Fehler verzeihen. Weihnachten 73? Hatte ich da jemand besonderen getroffen? Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass ich ein Weihnachten nicht bei meiner Familie verbracht hatte. Geschweige denn überhaupt mit einer Frau zusammen gewesen war während meiner kurzen Heimaturlaube über die Feiertage. Meist hatte ich da weder die Nerven noch die Zeit für gehabt und war froh, einfach im Kreise der Familie zu sein.

Wieder blinzelte ich angestrengt und versuchte durch schmale Schlitze das verschwommene Gesicht vor mir scharf zu stellen. „Ich bin's, Julie. Du erinnerst dich?", klärte die junge Frau mich schließlich auf. Bitte was?! Julie? Die kleine Schwester von Anne, dass süße Mädchen, dass meine Eltern so hingebungsvoll aufgenommen hatten, nachdem ihre eigene Mutter zu früh starb und ihr Stiefvater zu einem Monster geworden. Sie war nun ernsthaft zu dieser jungen Frau herangewachsen, die mich von der Straße aufgesammelt hatte? Es hinterließ einen seltsamen Schock in mir, eine Sprachlosigkeit, die auch jede Bemühung eines Lächelns ersterben ließ. Weihnachten 73, jetzt erinnerte ich mich. Das letzte Jahr bevor Julie anfing zu studieren. Sie hatte sich zu einer wahren Musterschülerin gemausert, hatte ein Stipendium für Harvard bekommen. Alle hatten sich überschlagen vor Freude als sie es erzählt hatte. Auch ich. Und dann hatte ich das in all dieser Unordnung in meinem Kopf einfach vergessen. Einfach verloren, wie ich so vieles jedes Jahr verlor, jeden Monat, jeden Tag.

Julie hatte anscheinend eh nicht mit einer Antwort gerechnet. Daher nahm sie es mit Fassung. Sie biss motiviert von einem Stück Toast ab und krümelte auf meinen Arm, aber auch das schien sie weniger zu stören als mich. Sie wirkte tiefenentspannt, irgendwie im reinen mit sich und der Welt. „Also... du siehst echt scheiße aus. Was auch immer du da gestern Nacht gemacht hast, du musst es mir nicht sagen, ist dein Ding. Das ist in Ordnung. Aber ruh dich noch ein bisschen hier aus. Wenn du Hunger oder Durst hast kannst du dich gerne bedienen oder bestell dir was, ist mir egal. Ich werde gleich zur Uni gehen, bin am Abend wieder da. Geh einfach, wenn du dich wieder einigermaßen fit fühlst, aber tu mir einen Gefallen und pass auf, dass du die Katze der Nachbarin nicht mit raus lässt. Hab ich schon mal auf Versehen gemacht. Größter Fehler meines Lebens!", schnatterte Julie zwischen den Bissen ihres Frühstücks und tätschelte mir dann noch einmal den Arm. Die Katze ihrer Nachbarin? Wovon redete sie denn da? Ach ja, daran erinnerte ich mich nun auch wage. Julie war in ein Studentenwohnheim gezogen und jobbte in einem Diner um es zu finanzieren. Jedenfalls war es das, was Derren mir mal in einem der wenigen Briefe geschrieben. Automatisch wollte ich grinsen, den Kopf schütteln und Julie in meine Arme ziehen, um sie nach all der Zeit endlich wieder zu umarmen. Als könnte ich so ein Stück Zuhause einfangen. Aber mehr als einen hilflosen Druck auf ihre Hand erreichte ich nicht. „Ich muss jetzt los. Erhol dich gut und erspar mir bitte den Anblick einer Leiche auf dem Sofa, wenn ich wiederkomme. Das ist neu. Hab dich lieb!", meinte sie beschwingt, beugte sich nun ihrerseits zu mir runter und umarmte mich kurz. Ich wünschte, ich hätte so spontan reagieren können wie ich wollte und den Arm um sie legen, aber da hatte sie sich schon wieder aufgerichtet und war aus meiner Reichweite gegangen. Hab dich auch lieb, wollte ich sagen. Danke... aber kein Ton verließ meine Lippen. Ich war zu müde. Mein Kopf dröhnte und kurz, nachdem die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde, nickte ich wieder weg.

Den ganzen Mittag über war ich abwechselnd wach und schlief dann wieder ein. Einmal schaffte ich es sogar mich halb aufzusetzen, der Kopf schwer und schmerzend, und das Glas Wasser auf dem Tisch neben mir hastig auszutrinken. Dann fiel ich wieder zurück und schlief erneut ein. Ich konnte es nicht glauben, dass Julie mich von der Straße geholt hatte. Warum um alles in der Welt war sie überhaupt da gewesen? Dieses Viertel war gefährlich, gerade für eine junge Frau wie sie. Sie hätte überfallen werden können, entführt, erpresst... oder schlimmer. Es war unverantwortlich, dass sie überhaupt in der Lage war mich dort zu finden. Auch, wenn ihre Hilfe und ihr Schutz mich innerlich stolz machte. Sie war wirklich erwachsen geworden, ohne das ich es bemerkt hatte. Irgendwann zwischen meinen Jahren in Vietnam. Sie war nun eine junge Frau, die für sich selbst stehen konnte, unabhängig, frei. Kein Vergleich zu dem kleinen Mädchen, das ich vor fünf Jahren kennengelernt hatte. Das schüchtern hinter dem Rücken ihrer älteren Schwester hervorgelugt und mitleidserregend gezittert hatte in dem kalten Winter vor Weihnachten. Aber trotzdem würde ich sie dafür tadeln, dass sie sich in diesen Vierteln herumgetrieben hatte, dass sie sich dieser Gefahr ausgesetzt hatte. So, wie es als ihr älterer Bruder eben meine Aufgabe war.

Doch erstmal musste ich wieder auf die Beine kommen, und so raffte ich mich gegen Abend auf, als ich wieder erwachte und mich einigermaßen besser fühlte. Von Schwindel gepackt, konnte ich kaum aufrecht sitzen, doch ich biss die Zähne zusammen und stand auf. Sofort sackte mir das Blut aus dem Kopf in die Beine und ich drohte hinzufallen, aber ich atmete einige Male tief durch, um dieses Gefühl loszuwerden. Vielleicht konnte ich ja wenigstens ein kleines Abendessen zaubern, bis Julie wieder zurückkam. Sozusagen ein kleines Dankeschön, wenn ich es schon nicht richtig aussprechen konnte.

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Frohe Ostern! Und schöne freie Tage, wünsche ich euch :)

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