Ich verstehe. Ich verstehe deine Flüsse nicht, deine stürmischen Kanäle schon gar nicht, aber gerade das ist Venedig und ich bin nur ein Fremder, ein Reisender, ein verirrter, vereinsamter Gondelfahrer. Ich lasse mich leiten, von deinen Strömungen mitreißen. Wasser tränkt die Gondel. Das kühle, seichte Wasser durchnässt meine Schuhe, dann meine Hose, dann mich. Aber ich verstehe. Ich verstehe dich nicht, aber ich verstehe. Ich bin ein verirrter Gondelfahrer, vereinsamt, so wie du es bist, und ich weiß nicht, wie man Gondel fährt, schon gar nicht wie man schwimmt, aber ich verstehe und ich verstehe nicht. Venedig, ich reise ab, treibe in andere Städte, dann Länder, dann Kontinente und zwischen uns bilden sich keine Welten, sie waren schon immer da. Unsichtbare Schleier, die sich gegen uns stemmten, gegen jeden einzelnen, gegen dich und gegen mich, denn ich irre umher und du bist Venedig. Du weißt, wer du bist. Vielleicht weinst du gerade deswegen oder du weinst, weil du es nicht weißt, weil du die Fremden in deiner Stadt nicht kennst, deine Tauben weggeflogen sind, die Kanäle verdreckt, dein Herz von Gondeln zerschmettert ist. Aber ich weiß es nicht, verstehe deine Tränen nicht. Du bist Venedig. Ich bin ein Reisender, ein Fremder, ein Pendler, gehöre zu einem ganz anderem Kontinent. Ich verstehe deine Sprache nicht. Welche Sprache spricht man in Venedig? Welche Straßen führen mich wohin? In welche Gondel muss ich steigen? Was ist Venedig? Wer ist Venedig? Ich irre umher, irre mich in geglaubten Wahrheiten. Bist du Venedig? Ich weiß es nicht. Vielleicht weißt du es, vielleicht tust du es nicht. Vielleicht versteht jeder nichts und niemand alles. Vielleicht bin ich ein Niemand in deiner Welt. Vielleicht bist du ein Niemand in meiner. Vielleicht. Du bist nicht sie. Ich weiß nicht, wer du bist, aber du bist nicht sie. Ich verstehe dich nicht und ich verstehe es. Sie war Venedig, als sie weinte. Jetzt sind wir zwei Fremde. In Erinnerung bleibst du Venedig und ich lasse dich gehen. Lass uns gehen. Lass uns leben, wer wir sind. Lass uns bekommen als wer wir leben, lieben, sterben. Sie war Venedig, als sie weinte. Ich weiß nicht, wer du bist. Sei Erinnerung, sei Momentaufnahme. Du warst nicht, du erinnertest mich an Venedig, als du weintest, doch du warst jemand ganz anderes. Du erinnertest mich an Venedig, als du weintest. Sei Erinnerung, sei Momentaufnahme. Leb wohl, Venedig. Leb wohl.
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Venedig
PoetrySie war Venedig, als sie weinte. 09/04/20 ALL RIGHTS RESERVED! NO PUBLIC DOMAIN!