Emmy Kapitel 1

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Schweigend saß sie da, ihre dichten schwarzen Locken verdeckten ihr Gesicht.
Sie hatte sich tief über ihr Heft gebeugt und schrieb einige Wörter hinein.
Die Wörter ergaben keinen Sinn, das wusste sie genau. Aber heute konnte sie sich einfach nicht mehr konzentrieren.
Genauer genommen konnte sie sich schon die ganze Woche lang nicht konzentrieren.
„Emmy?“, zischte es vom Stuhl neben ihr.
Emmy, das war sie: Emily Kopper.
Sie schaute nicht hin, denn sie konnte es einfach nicht ertragen, den Leuten in die Augen zu schauen, mit denen sie nicht reden durfte.
Immer wieder sausten die Worte des unbekannten Mannes durch ihren Kopf und erinnerten sie an ihre Aufgabe „Redet nicht mit anderen Lebenden“.
Die Worte hatten schrecklich geklungen, irgendwie so scharf und bedrohlich.
Aber sie musste sich daran halten, sonst würde sie es nie schaffen.

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„Emily Kopper?“, zischte ich. Oh, wie streng das klang.
So hatte ich sie noch nie genannt.
Eigentlich nannten wir (Sarah und ich) sie immer Emmy. Alle nannten sie so. Bis auf ihre Mutter, aber die war vor mehr als zwei Monaten beim Fensterputzen aus dem Fenster gestürzt und war einen Tag später im Krankenhaus verstorben.
Eigentlich hatte Emmy noch nie viel gesagt, aber nach diesem Erlebnis, hatte sie plötzlich wie ein Wasserfall geredet.
Sarah und ich hatten ihr immer zugehört und sie, so gut es eben ging, aufgemuntert. Aber heute sagte sie gar nichts mehr. Sie sah uns nicht einmal an, was wirklich wehtat.
„Haben wir dir etwas getan?“, fragte ich noch einmal. Wieder gab es keine Antwort, kein Nicken, kein Kopfschütteln, keine Regung, gar nichts.
Vorsichtig stupste Sarah mich an und flüsterte leise: „Lass sie doch erst einmal in Ruhe. Vielleicht ist sie über die Sache mit ihrer Mutter noch nicht ganz hinweg.“
Ich nickte. Natürlich war sie das nicht. Aber genau deshalb konnte sie doch mit uns reden. Dafür waren Freundinnen schließlich da. Bisher hatten wir uns immer alles erzählt und niemand hatte Geheimnisse vor dem anderen, das dachte ich zumindest.

Die Geschichtsstunde zog sich wie Kaugummi hin und ich war sehr erleichtert, als endlich der erlösende Pausengong ertönte.
In der Pause setzte sich Emmy ganz weit weg von uns auf eine Bank, ihr Gesicht noch immer hinter ihren Haaren verborgen.
Sarah und ich beschlossen, sie nicht noch einmal anzusprechen und ich kaufte uns zwei Schokoriegel in der Mensa. Nachdenklich setzten wir uns an einen freien Tisch und unterhielten uns.
„Was ist nur mit ihr los?“, überlegte ich an Sarah gewandt. Meine Freundin zuckte nur mit den Schultern und biss ein Stück von ihrem Riegel ab. Dabei verteilten sich einige Krümel über den ganzen Tisch. Wir wischten sie schnell mit einer Serviette auf und Sarah murmelte ein kurzes „Danke“. „Ich fände es ja okay, wenn Emmy nicht darüber reden möchte. Aber jetzt sagt sie ja kein einziges Wort mehr.“, setzte ich wieder an, obwohl ich das Gefühl hatte, dass Sarah schon etwas genervt davon war. „Weißt du Ava, ich finde das geht uns alles wenig an. Wenn Emmy nicht reden will, dann ist das schon in Ordnung. Bisher hat sie uns doch immer erzählt, wenn sie irgendein Problem mit uns hatte.“, erwiderte Sarah.
„Eben deshalb.“, antwortete ich leicht beleidigt. Warum wollte Sarah nicht sehen, dass da etwas nicht in Ordnung war.
„Ich meine damit: wenn das Ganze mit uns zu tun hätte, dann hätte sie uns das schon gesagt. Und alles andere ist ihre Sache.“, erklärte meine Freundin. Es hatte wirklich keinen Zweck mehr, mit ihr zu diskutieren.
In den restlichen Stunden musste ich immer wieder an den Platz neben mir gucken, auf dem Emmy saß. Sie schien ganz woanders zu sein. Immer wenn Sarah mich dabei erwischte, schaute sie mich mahnend an, und ich wendete mich wieder dem Unterricht zu. Das ging bis zur achten Stunde so. Als die Schule vorbei war und alle auf den Ausgang zu stürmten, blieb Emmy alleine im Raum zurück. Was war nur mit ihr los?

EmmyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt