Emmy Kapitel 2

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Es war bereits nach einundzwanzig Uhr als ich, in Gedanken versunken, die hölzerne Treppe zu meinem Zimmer hinaufstieg. Mein Zimmer lag ganz oben, im Dachboden.
Als wir eingezogen waren, hatte ich dort erst einmal alle Spinnweben und alte Kisten entfernen müssen, bevor ich darin wohnen konnte.
Jetzt war es das gemütlichste Zimmer im Haus. An den Wänden hingen Bilder von Sarah, Emmy und mir. Auf allen Fotos war Emmys strahlendes Lächeln zu sehen. Ich kannte niemanden, der so ein fröhliches Lächeln hatte wie Emmy.
Was sie jetzt wohl gerade machte? „Das geht mich nichts an.“, flüsterte ich zu mir selbst.
Genau das hatte Sarah versucht, mir zu sagen. Und doch war ich immer noch viel zu besorgt um sie, um einfach tatenlos sitzen zu bleiben.

Ich ließ mich auf mein Bett plumpsen und versuchte, an etwas anderes zu denken. Es klappte nicht.
Kurz entschlossen richtete ich mich auf, schlüpfte in meine Sneaker, packte meine Jacke und verließ leise das Haus. Schließlich wollte ich nicht von meinen Eltern dabei erwischt werden, wie ich um diese Zeit noch das Haus verließ.

Ein eisiger Wind fuhr durch meine Haare und ließ mich frösteln. Obwohl ich den ganzen Weg hierher mit dem Fahrrad zurückgelegt hatte, war mir kein Stück wärmer. Das Haus von Emmys Onkel lag etwas abseits, am Rande der Stadt und war aus grobem Stein gebaut.
Schon von weitem konnte ich es sehen.
Einige Laternen beleuchteten es schwach. Aber da auf dem Dach war noch etwas – ein Schatten.
War da etwa jemand auf dem Dach?
Neugierig ging ich auf das Haus zu und konnte meinen Augen nicht trauen.
Je näher ich kam, desto sicherer war ich mir.
Dort oben auf dem Dach stand niemand anderes als Emily Kopper. Ich ahnte, was das zu bedeuten hatte. Voller Panik rannte ich auf sie zu, der kalte Wind pfiff mir um die Ohren und ich konnte für einen Moment nichts anderes hören.
Entschlossen packte ich die Regenrinne mit beiden Händen und zog mich Stück für Stück zum Dach hinauf. Normalerweise traute ich mich nicht einmal eine ganz normale Kletterwand hoch. Meine Hände begannen zu schwitzen und fanden kaum noch Halt an der glatten Regenrinne. „Halte durch“, schrie ich durch den Wind zu Emmy hinauf, „mach es nicht! Ich bin gleich bei dir.“

Am liebsten wäre ich wieder hinuntergeklettert, aber die Angst um Emmy zwang mich, weiter zu klettern.
Auf dem Dach angekommen setzte ich zitternd einen Fuß nach dem anderen auf die Ziegel.
Sie fühlten sich locker an, als könnten sie sich jeden Moment lösen und zusammen mit mir in die Tiefe stürzen, so wie Emmys Mutter. Nein, ich durfte jetzt nicht daran denken!

Fast hatte ich meine Freundin erreicht, aber sie drehte sich nicht einmal um , sondern stand nur regungslos da, mit ihrer Hand umklammerte sie einen seltsamen, glitzernden Kristall und hielt ihn in den dunklen Abendhimmel. Endlich war ich so weit, dass ich ihre Hand nehmen konnte. Fest griff ich nach ihr, entschlossen sie nicht loszulassen, bis ich sie sicher vom Dach heruntergebracht hatte. „Warum machst du das, Emmy“, fragte ich vorsichtig, „du hast doch Freunde. Wir würden dich alle vermissen. Und dein Onkel auch.“
Sie schwieg. In dem Moment, als ich langsam einen Schritt nach unten machte, drehte sie sich mit einem Ruck um. Zum ersten Mal an diesem Tag sah ich ihr Gesicht. Ihre Augen waren rot und geschwollen und ihr Gesicht mit Tränen überströmt. „Ava“, sie redete wieder „lass mich einfach in Ruhe!“ Daraufhin ließ das Mädchen meine Hand so heftig los, dass ich beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Aber ich blieb stehen. „Hast du nicht gehört“, fragte sie, „Hau ab!“ „Aber ich kann doch nicht zusehen, wie du hier vom Dach springst. Verstehst du das denn nicht? Sarah, dein Onkel und ich, wir brauchen dich!“ , schrie ich und mir kamen selbst die Tränen. Ich konnte das nicht zulassen.

Dann ging alles sehr schnell. Der Dachziegel, auf dem ich bis eben noch fest gestanden hatte löste sich mit einem Mal und ich rutschte ab. Verzweifelt versuchte ich mich an den restlichen Ziegeln festzuklammern, doch die waren einfach zu rutschig. Mit einem spitzen Schrei landete ich unsanft auf dem Boden. Um mich herum wurde alles schwarz.

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Voller Angst war sie bis an die Regenrinne hinabgeklettert, um nach Ava zu sehen. Sie hatte sich nicht bewegt. Doch sie durfte ihr nicht helfen, sondern musste sich jetzt um ihre Aufgabe kümmern. Beinahe hätte Ava alles herausbekommen. Dicke, heiße Tränen kullerten ihre Wange herunter und blieben in ihren dichten, pechschwarzen Haaren hängen wie eine Fliege im Spinnennetz. Was, wenn ihr das selbe passiert wäre, wie ihrer Mutter? Es wäre alles ihre Schuld gewesen. Sie packte die Diamantkette ihrer Mutter noch fester und hielt sie in den Himmel. Bald würde es klappen, da war sie sich sicher, sie müsste sich nur besser konzentrieren.

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