Emmy Kapitel 4

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Nachdenklich verließ sie das Krankenzimmer und schlurfte die Treppe, die sie eben so schnell hinauf gehetzt war, hinunter.
Da ihr Körper sich beschwerte, dass sie heute schon genug Sport gemacht hatte, nahm sie den Bus zu Emmys Haus.
Als sie vor dem Haus ankam, war sie sich auf einmal doch nicht sicher, ob das so eine gute Idee gewesen war. Ihre Knie zitterten leicht. Schockiert stellte sie fest, dass die Hauswand immer noch voller Blut von Avas Unfall war.
Was, wenn sie die erste wäre die erfahren würde, dass Emmy gestorben war?
Wie sollte sie das je verkraften?
Und vor Allem - wie sollte sie das Ava erklären?
Mit schwitzigen Fingern drückte sie auf die Klingel mit der Aufschrift Schneider/Kopper. Eine Weile passierte gar nichts, doch dann wurde ihr geöffnet. Vor der Tür stand Emmys Onkel: ein schwarzhaariger, netter Mann, Mitte 50. „Wie kann ich dir helfen?“, fragte er freundlich.

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Sie schluckte. Würden sie erfahren, dass sie mit Ava gesprochen hatte? War sie überhaupt noch am Leben? Ihr wurde noch schlechter als zuvor. Plötzlich bestand ihr ganzes Leben nur noch aus Lügen und Sorgen. Schüchtern betrat sie den dunklen Raum, der nur von ein paar Kerzen beleuchtet wurde und setzte sich auf einen Stuhl. Hoffentlich gab es hier niemanden, der Gedanken lesen konnte.

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Vor ihr lag ein großes, hässliches Steingebäude. Die Wände waren voll mit Graffiti und Plakaten, die Werbung für längst stattgefundene Konzerte machten.
Aus den Ritzen in der Mauer wuchsen Efeu und jede Menge andere Pflanzen. Irgendwo hatte wohl ein Obdachloser sein Geschäft erledigt.
Was wollte Emmy bloß hier? Es war nicht leicht gewesen, sie bis hierher zu verfolgen. Ihrem Onkel hatte sie erzählt, dass sie Emily die Hausaufgaben bringen wollte und hatte irgendein halb zerknittertes Arbeitsblatt aus ihrer Tasche gezogen.
Emmys Onkel hatte sich daraufhin bedankt und war mit dem Auto Einkaufen gefahren.
Zum Glück hatte er nicht bemerkt, wie sie am Haus zurückgeblieben war.
Erst hatte sie versucht, durch ein Fenster Emmys Zimmer zu erreichen, doch schließlich hatte sie gesehen, wie Emmy mit einer Kapuzenjacke getarnt das Haus verließ und war ihr kurzerhand unbemerkt gefolgt.
Jetzt stand sie hier und wusste nicht weiter.
Emmy war irgendwo in dem Gebäude verschwunden und es war unmöglich, sie dort zu finden.
Außerdem wusste sie ja immer noch nicht, was ihre Freundin dort wollte. Nur eins stand bisher fest: Emmy lebte!
Trotzdem hatte sie irgendwie ein ungutes Gefühl. Zu viele Fragen waren noch ungeklärt.
Ratlos setzte sich das Mädchen auf einen Stein neben dem Tor, durch das Emmy das Gebäude betreten hatte, als sich plötzlich eine junge Frau von hinten näherte.
„Was machst du hier?“, fragte die Frau streng. Erschrocken drehte sie sich um: „Ich...äh...habe mich verlaufen.“, stammelte sie. Ob die Frau ihr das glauben würde?
„Du siehst nicht aus wie jemand, der sich verlaufen hat“, stellte sie fest und musterte sie von oben bis unten mit ihren grauen Augen, die irgendwie bedrohlich aussahen, „aber eigentlich auch nicht wie jemand, der zu denen gehört.“
„Zu denen?“, fragte sie und sah die Frau ängstlich an. „Na, zu denen. Darum bist du doch hier, oder etwa nicht?“, wollte die Frau wissen. „Entschuldigung“, stammelte sie, „ich habe keine Ahnung, wen sie damit meinen.“ „Dann bist Du gar nicht hier, weil du zu „The Light“ möchtest?“, erkundigte sich die Frau. „Hören Sie, ich habe keine Ahnung wer „The Light“ ist. Langsam wird es mir hier echt zu bunt.“, erwiderte sie und beschloss, so schnell wie möglich abzuhauen.
All das kam ihr einfach viel zu seltsam vor. Aber die Frau hielt sie zurück:„Machen wir es so: du erzählst mir, was du hier zu suchen hast. Vielleicht kann ich dir ja helfen. Und dafür erzähle ich dir, was „The Light“ wirklich ist und was ich damit zu tun habe, einverstanden?“ Zögernd willigte sie ein. Wenn sie herausfinden wollte, was mit Emmy los war, gab es keinen anderen Weg. „Also schön“, begann die Frau und sah gleich viel freundlicher aus, „ich bin Hannah. Ist je ein Mensch gestorben, der dir sehr nah stand?“
Was war das denn für eine Frage? Nach ein bisschen Überlegen schüttelte sie den Kopf. Vor zwei Jahren war ihre Oma gestorben, aber die hatte sie nie wirklich gekannt.
„Gut“, die Frau setzte ihre Erklärung fort, „es ist nicht leicht jemandem „The Light“ zu erklären, der noch nie jemanden verloren hat. Also: als ich sechzehn war, starb mein Vater an einer unheilbaren Krankheit. Es war total unerwartet und ich war wirklich am Boden zerstört. Ich hatte an nichts mehr Spaß und hätte den ganzen Tag nur noch heulen können. Und..na ja, dann habe ich ein Plakat von „The Light“ gesehen. Sie haben damit geworben, dass man durch sie wieder Kontakt zu Verstorbenen aufnehmen könnte. Ich weiß, dass das totaler Quatsch ist, aber wenn du gerade so durcheinander bist, dann glaubst du das plötzlich. Jedenfalls bin ich dann zum allerersten Mal hierher gekommen und habe gesehen, wie viele Leute es gibt, denen es genauso ging, wie mir. Wir waren bestimmt zehn Leute. Der Anführer saß hinter einer Wand, niemand kannte sein Gesicht. Und er hat uns erklärt, wie es klappen kann, Kontakt zu Toten aufzunehmen. Aber wir durften mit niemandem darüber reden und auch ansonsten keinen Kontakt zu anderen Menschen haben, denn das hätte angeblich unseren Kontakt zum Jenseits gestört. Für mich war das nicht schwer, dachte ich, ich hatte nicht mehr viele Freunde und meine Mutter sprach seit dem Tod meines Vaters selbst nur selten. Doch nach einigen Wochen habe ich gemerkt, wie schwer es für mich war, mit niemandem reden zu können. Es fühlte sich so schön an, mit anderen Leuten bei „The Light“ über all das sprechen zu können. Bis dahin hatte ich immer noch keinen Kontakt zu meinem Vater aufnehmen können. Der Anführer meinte, das läge daran, dass ich immer noch zu viel mit Lebenden sprechen würde. Irgendwann fing er dann an, mir irgendwelche verrückten und teuren Dinge zu verkaufen, mit denen ich den Kontakt angeblich herstellen könnte. Und dann, endlich fiel mir auf, dass „The Light“ ein einziger Schwindel ist und nicht einfach eine Gruppe, sondern eine Sekte!“ Sie schwieg betroffen. Das alles klang ziemlich hart. „Es, es tut mir sehr leid“, flüsterte sie, „warum hast du nicht die Polizei gerufen?“ Hannah lachte: „Ja, das dachte ich mir auch. Ich war inzwischen bei einer Psychologin, mit der ich über alles sprechen konnte und hatte nach und nach sogar wieder ein paar Freunde gefunden. Aber irgendwann wurde mir klar, dass ich da nicht mehr so leicht rauskam. Die anderen Leute hatten sich inzwischen alle eingebildet, wirklich wieder Kontakt zu ihren Liebsten zu haben und haben viel Geld dafür ausgegeben. Natürlich habe ich dem Anführer gesagt, dass ich jetzt klar komme und „The Light“ nicht mehr brauchte. Da wollte er mir einfach noch etwas Teureres andrehen. Und er hat gesagt, wenn ich zur Polizei gehe, dann knöpft er sich meine Mutter vor. Ich konnte einfach nicht! Deshalb stehe ich hier fast jede Woche, damit andere nicht den selben Fehler machen, wie ich. Bisher hat mich dabei noch niemand erwischt. Aber was hast du jetzt damit zu tun?“
Angespannt räusperte sie sich: „Ich fürchte, meine Freundin ist da drin!“
„Was“, entsetzt starrte Hannah sie an, „verdammt!“ „Verdammt!“

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