Kapitel 1

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Der Schnee knirschte unter Makotos schweren Pfoten. Es schneite. Alles im Leben hatte Vor- und Nachteile. So auch der Schnee beim Jagen. Der Nachteil: Er konnte die Beute nicht so gut erkennen. Der Vorteil: Sie ihn auch nicht. 

Und so schlich der junge sibirische Tiger durch das dichte Unterholz des weißen Waldes und verfolgte mit höchster Konzentration die Spur eines Elches. Sein Magen schmerzte. Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und seine zwei letzten Versuche waren erfolglos geblieben. Gefährlicher Energieverbrauch. Jeder Sprint zehrte die Kraft aus seinem Körper und erschwerte die nachfolgenden Jagden. Sein Körper benötigte jeden Tag mindestens sechs Kilo Fleisch. Das waren sechs Kilo zu wenig, die er heute zu sich genommen hatte. 

Sein wuchtiger Körper schob sich zwischen den Bäumen hindurch, seine vier Pfoten vermieden unterbewusst jede Geräuschquelle. 

Auf einmal nahm Makoto eine Bewegung auf einer Lichtung vor ihm wahr. Da war er, der junge Elch, den er schon seit einer gefühlten Ewigkeit verfolgt hatte. Er stammte aus einer kleinen Gemeinde am Waldrand und gehörte zu diesen seltsamen Aufrechtgehern, die scheinbar verlernt hatten, in ihre ursprüngliche Form zurückzukehren. Dadurch waren sie langsamer und wehrloser. Es wirkte auf ihn schrecklich unnatürlich und gestellt. Doch im letzten Jahrzehnt waren sie immer mehr geworden, bis Beute in ursprünglicher Form praktisch verschwunden war.  Gerade sammelte der Elch Kräuter, die den antauenden Schnee durchstoßen hatten und den Frühling begrüßten. In der Dämmerung traf er öfter Huftiere seiner Art an. 

 Bei dem herrlichen Duft des Jungtiers vor ihm lief ihm bereits das Wasser im Maul zusammen. Ohne zu Zögern fiel er in sein über die Jahre perfektioniertes Jagdkauern. Verteilte sein Gewicht. Schlich vorwärts. Windrichtung geprüft. Vorsichtig, darauf bedacht, nicht auf das am Boden liegende Totholz zu treten und seine Beute aufzuscheuchen. 

Seine Atmung wurde ruhiger und gleichmäßiger, während sein Herzschlag beschleunigte und sich seine Sicht verschärfte. Noch ein paar Meter, dann war er nah genug. Makoto sammelte die Kraft in seinen Hinterläufen und bereitete sich auf den Sprint vor. Diesmal musste es funktionieren. 

Der Rausch erfasste ihn. Süchtig machendes, prickelnde Ziehen in jeder seiner Zellen. Dieses Zucken in seinen Krallen und das Adrenalin, das durch seine Blutbahnen pumpte. 

Er drückte sich ab und schoss vorwärts. Der Elch hob erschrocken den Kopf, sprang auf und rannte. Seine Hufe waren nun Füße. Sie steckten in Überzügen. Seine einst so schnellen Vorderbeine waren Arme, die ineffizient neben dem Körper hin und her schwangen. Makoto hätte lachen können, bei diesem Anblick. Das war einer der langsamsten Elche, die er seit langem gejagt hatte. Seine tollpatschigen Schritte brachte ihn auf dem Schnee ins Straucheln und noch bevor Makoto sich hätte anstrengend müssen, hatte er sich bereits in die Luft katapultiert und sich auf den entblößten Rücken gestürzt. Sofort fanden seine gewaltigen Reißzähne die Kehle seines Opfers und versenkten sich tief im zarten Fleisch seines Halses. Der herrliche Geschmack von Blut erreichte seine Geschmacksnerven und genüsslich grunzte Makoto, während er den Elch zu Boden rang. Röcheln. Zappeln. Schwache Arme drückten gegen Makotos Brust. Der Elch wollte Worte stammeln, doch stattdessen kam nur Blut aus seinem Maul. Gut so. Mit dieser seltsamen Aufrechtgeher-Sprache konnte Makoto nichts anfangen. 

Für einige Minuten wehrte sich der Elch noch, doch Makoto musste nur still daliegen, den Körper und die Kehle fest umklammert halten und warten, bis seinem Opfer die Kraft ausging. Das Leben wich langsam aus ihm. Während er wartete, beobachtete Makoto mit einer Spur Abscheu die zarten Finger, die sich in sein dichtes Brustfell geklammert hatten und unter Krämpfen zuckten. Warum taten diese Tiere das? Ihre natürliche Form aufgeben und dafür wehrloser sein? Einen Hirsch oder Elch zu erlegen, der auf allen Vieren behände durch das Unterholz sprang, war so absurd viel schwieriger als einen kümmerlichen Aufrechtgeher zu töten, dass ihm das einfach nicht in den Kopf ging.

CARNIVORE | Beastars FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt