[1/4] Toxischer Notfall

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Mitte Mai 2012

"Aus dem Weg!
Schwere Intoxikation!", rief einer der Pflegekräfte, als die Türen zur Intensivstation geöffnet wurden. Gefolgt von zwei Ärzten und einem besorgt aussehenden Mann wurde der neue Patient in eines der Zimmer gebracht.

"Ein neuer Zugang aus der Notaufnahme", übergab die Pflegekraft der Notaufnahme den Patienten an das Stationspersonal der Intensivstation, unter dem sich auch Winston befand. Er drängelte sich natürlich neugierig wie immer an den Pflegern vorbei, um sich ein Bild der aktuellen Situation zu machen.

"Was ist passiert?", fragte jemand, doch die Stimmen rückten für Winston in den Hintergrund.
"Alkoholvergiftung. Die Ärzte mussten ihn in ein Koma verlegen. Er ist gerade mal vierunddreißig und dies sei bereits die dritte, doch so schlimm war es noch nie, sagte sein Freund."

Der Pfleger deutete zu diesem. Der besagte Freund zupfte nervös an seiner Jacke herum und reagierte nicht. Er besaß etwas längere gepflegte braune Haare, dunkelgrüne Augen und trug eine einfache Jeans, über die er ein schwarzes Oberteil angezogen hatte.

"Wie heißt der Patient?", wollte eine ruhig klingende Krankenschwester wissen.
"Winter Wyatt. Die restlichen Informationen stehen in der Akte", sagte der Pfleger der ZNA und deutete auf die graue Akte in seiner Hand, die er ihr reichte. Die Krankenschwester überflog kurz das Stammblatt mit den Diagnosen:

Z.n. Unfall 2002
Z.n. SHT Grad 2 und dreiwöchigem Koma
Z.n. Rippenfraktur mit inneren Blutungen und Kontusionen

Aktuelle Diagnosen:
Alkoholabusus
Nikotinabusus
schwere Depression
hypertensive Krisen

Medikamente:
Antidepressiva
b.B. Nitro-Spray, wenn RR > 180/120mmHg oder 1 Bayotensin Phiole

"Wyatt ... Ja, er ist bekannt. Aber nicht nur wegen der jetzigen Sache. Und Sie sind der Freund, ja?", wendete sich die Schwester an den unruhigen Mann, der zur Sicherheit an der Wand lehnte.
"Ja, sein bester Freund", brachte der ältere nur schwer über die Lippen. "Lennie Kayden."

Auf einmal rutschte Winston das Herz in die Hose. War er etwa dafür verantwortlich? Durch seine letzten geschriebenen Worte an Winter? Oder hatte Winter ein so schwerwiegend schlechtes Gewissen, dass er sich selbst bestrafen wollte? Um all seine Fehler zu vergessen und nicht mehr kämpfen zu müssen?

Vermutlich waren all diese Fragen immer mit dem gleichen Wörtchen zu beantworten: ja.

Ende Mai 2012

Die Wochen zogen sich wie ein zäher Kaugummi und es schien kein Ende in Sicht. Dieser Einsatz würde für Winston ewig dauern.

In den gemeinsamen Pausen erhob sich Winston jedes Mal und sagte den Mitarbeitern zwar, dass er nach draußen gehen würde, um frische Luft zu schnappen. Doch in Wirklichkeit, stand er minutenlang an Winter's Bett. Er redete selten, auch, wenn man mit Patienten, die im Koma lagen, normalerweise reden sollte. Doch er konnte sich nicht dazu überwinden.

Der Auszubildene prägte sich viel lieber das Gesicht des Älteren ein. Dessen pechschwarze Haare waren zerzaust, einige Strähnen lagen wirr auf seiner Stirn, die Wangen wurden von einem dunklen Bartschatten bedeckt, doch diese Stoppeln standen ihm außergewöhnlich gut. Die markanten Gesichtszüge schienen, als könnte man sich an ihnen schneiden, und es ließ Winston jedes Mal aufseufzen, wenn er daran dachte, ihn zu berühren.

Anfang Juni 2012

Winston legte früh am Morgen seine Hand auf die des älteren.
"Irgendwie vermisse ich dich und deine grimmige Art. Du wirst mich nicht los. Ich bin eine verdammte Klette, deine Klette. Und meinem Auge geht's auch wieder gut, falls du deswegen Angst hast", versicherte er ihm, überwältigt von all den Gefühlen, die er auf einmal spürte und die sein klares Denken beeinträchtigten.

"Winter ... Ich hoffe, du wachst irgendwann wieder auf", flüsterte Winston, während er mit dem Daumen auf dessen Haut auf und abstreichelte.

Winston wollte es nicht wahrhaben, doch die Atmung des älteren Mannes begann sich zu verändern. Sie wurde nicht mehr von der Beatmungsmaschine angetrieben, denn er atmete nun von selbst. Auch der Herzschlag wurde schneller. Ein alarmierendes Piepen des Überwachungsmonitors holte Winston zurück in die Realität. Sein Blick richtete sich auf diesen und in dem Moment wusste er, was passierte.

Winter wachte auf.

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Abkürzungen / Erklärungen

SHT = Schädel-Hirn-Trauma
Z.n. = Zustand nach
Kontusionen = Prellungen
-abusus = -missbrauch
b.B. = bei Bedarf
RR (Blutdruck) = Riva Rocci

𝖳𝗂𝗉𝗉𝖿𝖾𝗁𝗅𝖾𝗋Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt