Vögel zwitschern, die Sonne scheint, ein leichter Windhauch kitzelt ihre Nase und der angenehme Duft des Waldes erweckt in ihr ein Gefühl von Freiheit. Der Sommer ist für sie die schönste Zeit des Jahres. Zwei Wochen frei von Stress und Arbeit und der Einengung durch die alltäglichen Pflichten. Das Handy hatte sie ausgeschaltet in die hinterste Ecke ihrer Reisetasche verbannt. Sie ist das ständige Erreichbar-Sein leid und hat beschlossen, diesen Sommer komplett darauf zu verzichten. Heute morgen ist sie zeitig aufgebrochen, hat bereits einen Gipfel bestiegen und sich dann am Nachmittag auf einer Waldbühne ein Stück angesehen. Nun sitzt sie auf einer Wiese und liest in einem ihrer Lieblingsbücher. Sie genießt das Gefühl von Zwanglosigkeit und Freiheit in vollen Zügen. In der Ferne hört sie Stimmen. Die Stimmen kommen näher und schon bald erblickt sie am Rande des undurchdringbar scheinenden Tannenwaldes zwei Gestalten. Zwei Kinder, sie wirken unbeschwert und glücklich. Fröhlich springend und lachend kommen die beiden auf sie zu. Sie erkennt das kleine Mädchen und den Jungen. Gemeinsam mit ihren Eltern sind die beiden zu Gast in der selben kleinen Bergpension wie sie selbst. Eine liebenswürdige kleine Familie. Beim Abendessen unterhält sie sich oft mit ihnen. Das kleine Mädchen winkt und kommt nun direkt auf sie zu. „Hallo!", ruft es, „wir wollen an einem geheimen Ort den Sonnenuntergang anschauen. Komm doch mit." „Gerne...", antwortet sie überrascht und noch ehe sie es sich anders überlegen kann, nimmt das Mädchen ihre Hand und zieht sie in Richtung des Jungen, der bereits vorausgeeilt ist. Der Weg führt die drei ein Stück an einem schmalen Bach entlang und durch einen märchenhaften Wald, der kein Ende zu nehmen scheint. Auf einmal verlassen die Kinder den befestigten Weg und führen sie, zwischen einigen dichten Bäumen hindurch, zu einer wunderschönen Lichtung. „Diesen Ort haben wir vor ein paar Jahren beim Spielen entdeckt und nun kommen wir jeden Sommer wieder hierher", erzählt das kleine Mädchen mit einem Glänzen in den Augen. Der Ausblick ist atemberaubend schön. Sie sind gerade im richtigen Moment gekommen, um die Sonne hinter ein paar Bergen in der Ferne verschwinden zu sehen. Der Himmel ist nun in ein dämmriges Rot getaucht. Sie setzt sich ins Gras, um den Moment zu genießen. Die Kinder spielen fröhlich. Der Junge jagt einigen Grashüpfern hinterher, das kleine Mädchen pflückt einen Blumenstrauß. Die Zeit scheint still zu stehen, sie schließt die Augen und atmet die frische Bergluft ein. Plötzlich verspürt sie ein starkes Ruckeln und eine verzerrte Lautsprecherstimme reißt sie aus der wunderschönen Welt. „...Endstation. Ausstieg bitte in Fahrtrichtung rechts..." Sie öffnet die Augen und stolpert verschlafen aus dem Zug, der an einem kleinen Bahnsteig zum Stehen gekommen ist. Es gießt in Strömen und entsetzt muss sie feststellen, dass sie ihre Haltestelle verpasst hat. Das war der letzte Zug des Tages. Instinktiv greift sie in ihre Jackentasche, um schnell mit dem Handy ein Taxi zu rufen. Die Tasche ist leer.
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In Gedanken - Kurzgeschichten
Historia Corta...Einblicke in das Leben und die Gedankenwelten von Personen. Personen, mit alltäglichen Sorgen und Problemen. Personen, mit Träumen und Sehnsüchten...