Kapitel 1

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Nicht der Tod selbst ist es, was das Schlimmste, das Tragische am Tod eines geliebten Menschen auszeichnet, der Verlust quält niemanden direkt, einzig die Leere schenkt uns die Illusion vom unerträglichem Schmerz. Wir vermissen nicht die Toten; nur den Gedanken, die Idee von ihnen. Unsere nervigen Hirngespinste, die nicht zum Kontrollieren gedacht sind, flüstern uns Lügen, die in ihrem gemächlichen Tempo zu Wahrheit werden, ins Ohr, lassen uns völlig abhängig von dieser Absurdität zurück in der aussichtslosen, alles verschlingenden Dunkelheit zurück. Das Entlocken der Tränen ist kein Talent mehr, wenn man jeden gottverdammten Tag aufs neue mit der Realisierung, der Erkenntnis, niemanden mehr zu haben, mit dem man dieses spezifische Gespräch führen kann, keinen, der einem mit genau diesen Worten aufheitert und motiviert, nicht eine Menschenseele sich in der Lage befindet andere so fest und lieb zu umarmen, dass es beinah tröstend wirkt, konfrontiert wird, aber dieser Gedankengang ist rar, man hängt nicht an den Eigenschaften der Toten, lediglich der leere Platz tut uns weh. Die Idee der Person, der an unserer Seite sitzt, während wir über zweitrangige Themen kostbare Tränen vergießen, geblendet von der Trauer, um uns im Klaren darüber zu sein, dass der Mensch, der in diesem Moment unsere Hand hält, nicht zählt, schwächt und treibt uns in den altbekannten Wahnsinn. Die Existenz selbst ist unwichtig, solange einfach nur irgendjemand sich bereit erklärt uns in diesem kurzen Leben zu unterhalten. Ersatzbar ist jeder.
Hätte Dan also jemals Freunde gehabt, die ihn unterstützt und das schmutzige, ihn umschmeichelnde, mit leeren Versprechungen lockende Schwarz in ein reines Weiß verwandelt hatten, dann wäre der endlos wirkendende Abgrund, auf dem er unsanft nachdem Tod seiner Eltern gelandet war, nicht halb so tief. Die Last, die auf seinen Eltern gelegen war, wäre gerecht aufgeteilt gewesen und ihr Verlust kaum schmerzvoll, es würden sich ja weiterhin Menschen um ihn kümmern; genauso sorgsam. Es tat weh, niemanden mehr zu haben, der auf einen aufpasste, der einen ins Kino mitnahm, der sich Sorgen machte oder der an einen dachte, und all das, weil er ihn liebte. Die Leere zu füllen hätte so einfach sein können, aber Dans Einsamkeit hatte ihn schon seit dem Kindesalter begleitet; allein und verlassen würde er sich immer fühlen; es waren keine temporären Gefühle. Ein Ersatz war nicht aufzutreiben. Für Leute wie ihn existierten keine gutartigen Menschen; und, wenn es tatsächlich Personen gab, die sich mit ihm rumschlugen, dann sicher aus Pflichtbewusstsein und nicht aus purer, reiner Liebe; wie es sich Dan einreden mochte.
Er hatte gelitten, lange, lange gelitten, bis er seine alten Bekannten wieder entdeckt hatte. Sie waren klein und bunt; vernebelten sein kaputtes, müdes Gehirn so sehr, dass er sich der Illusion, sie seien zuckersüß und wohltuend, vollkommen hingab. Sie stoppten den Wahnsinn nicht, sie verlangsamten ihn nur, nahmen seinen Medikamenten die Arbeit ab; verbesserten die Wirkung. Dafür war Dan äußerst dankbar, so dankbar, dass ihm der immer höher steigende Preis nichts ausmachte. Wobei sein sterbendes Gehirn den Betrug nicht mal richtig wahrnahm; selbst wenn er es täte, der Gedanke, was zählten schon Materielles und Psychisches in dieser verlorenen Welt, solange die Ewigkeit danach wartete, hatte sich schön eingenistet und breitete sich erneut weiter aus; geborgen und unterstützt von den süßen, süßen Pillen, dessen Einnahme langsam unbedenklich für ihn wurde. Das Vergessen war wichtig; wichtiger als seine Gesundheit; Vergessen half ihm glücklich zu sein, Vergessen war schön, Vergessen war pur. Es zerfraß ihn nicht wie die anderen Sachen, es linderte und ließ ihn zur Ruhe kommen.
Ohne Jayden, einem alten Bekannten, der tatsächlich Dan in der eisigen, regnerischen Nacht der Beerdigung besucht hatte, um ihm etwas Trost zu spenden, säße er jetzt nicht hellwach und in Schweiß gebadet auf seinem großen Doppelbett; sondern läge langst unter der Erde, bei der familiären Kälte. Er war es, der Daniel einen Weg zu leben gezeigt hatte, einen ohne Schmerzen. Es hatte alles so unschuldig, so rein angefangen.

„Ich hab mir gedacht, dass du heute vielleicht nicht unbedingt allein sein solltest.", erklärte der vollkommen durchnässte Blauhaarige einem mitgenommen aussehenden 16-jährigen, der ihm gerade die Tür geöffnet hatte, nur um überrascht zu verharren.
Als nach ein paar Minuten immer noch keine Antwort folgte, hackte der zitternde Amerikaner mit einem leichten Anflug eines Lächeln nach: „Willst du mich nicht reinbitten?"
„Oh mein Gott .. ja, selbstverständlich, komm nur rein ... ich war nur s- ... tut mir leid...", sprudelte es aus Dan, der immer noch verwirrt zu sein schien, hervor, während er mit einer simplen Geste und ein paar zurückgetretenen Schritten Jayden Eingang gewährte.
Ohne zu zögern zwängte er sich durch die Tür und Dan, um zum hell beleuchtenden Wohnzimmer, welches nur aus weißen Möbel bestand, zu gelangen. Der überrumpelte Gastgeber folgte ihm, nachdem er übervorsichtig und viel zu lange die Tür verschlossen und die Sicherheitssysteme gecheckt hatte, da er sich nicht mehr sicher in dieser Wohnung fühlte, ohne seine Eltern, ohne jemanden, dem er vertrauen konnte, weil derjenige sich so lange um ihn gekümmert hatte; egal, wie viele Sicherheitsleute vor dem Hochhaus, in dem er lebte, standen und wie exakt der Türsteher die Gäste kontrollierte; allein die Tatsache, dass Jayden, der nicht zu den Personen auf der Besucher-Liste der Howells gehörte, in der Lage war, alleine den Aufzug zu Dans Stock zu tätigen, bewies die Nachlässigkeit der Angestellten in diesem Gebäude. Gewiss war Jay kein Fremder und auch nicht unwillkommen, aber die beiden sollten nicht in Verbindung gebracht werden, da ihre seltenen Treffen unter strengster Diskretion standen.
„Wie bist du reingekommen?", brach Dan leicht misstrauisch die nervige Stille, als er sich neben ihn auf die weiße Ledercouch, eines der vielen Designermöbel, in diesem Penthouse, aus dem Hause Aszozzoloi, die direkt von der Schweiz geliefert worden war, hinsetzte, davor jedoch noch einen kleinen Ausflug ins Bad veranstalten hatte, um Jayden ein Handtuch zum Abtrocknen zu holen, und ergänzte danach folgendes, während er dem durchnässten Jungen das Stück Stoff mit einem müden, halbherzigen Lächeln, welches trotzdem seine Grübchen zum Vorschein brachte, mitten ins attraktive Gesicht warf: „Ich habe keinen Anruf bekommen, um deinen Besuch zu bestätigen".
Der Blauhaarige ließ sich ausreichend Zeit mit der Antwort, auch, wenn er sonst sehr gesprächig war, schien er im Moment nicht wirklich zum Reden aufgelegt zu sein. Der Trost, den er kürzlich zur Sprache gebracht hatte, schien wohl die etwas andere und aktivere Art von Trost zu sein.
Nachdem Jayden es sich ordentlich bequem auf dem Sofa gemacht und seine mittellangen Haare auf seinem Kopf, die er stets zur Seite stylte, und die kürzeren an der Seite trocken gerubbelt hatte, und sich somit im Besitz der gleichen, verwuschelten Mähne wie Dan befand, folgte eine Erklärung in lapidarer Kürze, aber mit einem schüchternen Lächeln, der seinen Worten die Härte nahm: „Ich stehe auf der Besucherliste von den zwei Typen, die unter dir wohnen."
Während er die Reaktion seines Gegenübers versuchte genau mit zu verfolgen, entledigte er sich seinem Shirt, um den nassen, durchtrainierten Körper zu trocknen.
Konfus hob Dan eine Augenbraue, da die Antwort seines Bekannten keinen vollständigen Sinn für ihn ergab. Falls man ins Gebäude reingelassen wurde, durfte nur das Stockwerk betreten werden, wofür man eine Berechtigung vorweisen konnte; hieß: Jayden war zwar in der Lage im 80.Stock herumzulaufen, aber der 81.Stock, in dem Daniel lebte, war dennoch Tabu für ihn. Als Jay, der sicherlich über diese Regel spätestens im komplett aus Glas bestehenden Aufzug vom Fahrstuhlführer aufgeklärt hätte sein müssen, die Verwirrung, die Dan ins hübsche Gesicht geschrieben stand, bemerkte, fügte er zu seinem Darlegen der Zusammenhänge folgendes hinzu: „Sie sind befugt deine Wohnung zu betreten und haben mir netterweise ihre Karte für den Lift ohne den Operator geliehen."
Dan wüsste zwar gerne, wer denn diese zwei mysteriösen Jungen im unteren Stockwerk seien, die Jayden allem Anschein nach so achtlos die Befugnis durchs ganze METROPOL herumzuwandern gegeben hatten, aber um ehrlich zu sein, war der heutige Tag sehr anstrengend für Daniel gewesen, weshalb er auf eine weitere Frage verzichtete und kurz die Augen schloss, um sich für eine Sekunde auszuruhen.
Er hatte den ganzen Vor- und Nachmittag über so vielen Fremden die Hand schütteln, mit ihnen dumme und indiskrete Konversationen führen und ihr heuchlerisches Beileid entgegen nehmen müssen. Am Anfang bekam Dan nur irgendwelche irrelevanten Bemerkungen über die Arbeit von Sebastian und Maria Howell zu hören, darauf folgten scheinheilige, nach Antworten fordernde Äußerungen, die auf keinster Weise von Empathie zeugten und eindeutig nur der Karriere de Fragesteller zugute kamen. Ab diesem Punkt brach Daniel die Unterhaltung ab und bat diese unhöflichen Leute höflich sich zu setzen, obwohl er viel lieber ganz anderes reagiert hatte, aber, ein derartig obszönes Verhalten würde sich für so jemanden wie ihn nicht gehören; nicht an diesem Ort und auch nicht zu dieser Zeit.
Es hatten dennoch viele Menschen um seine Eltern getrauert und geweint, jedoch war sich Dan nicht sicher, wer von diesen intriganten Personen tatsächlich wahre Tränen vergossen hatte.
Die Medien, die es einfach nicht lassen konnten und dreist wie sie waren, die Kirchenausgänge komplett blockiert hatten, um aus Dan die erhoffte, herzzerreißende Rede für die Öffentlichkeit herauszubekommen, schienen ebenfalls sehr betrübt über den tragischen Vorfall zu sein. Als klar wurde, dass der einzige Sohn der verstorbenen Firmenleiter des Howell-Unternehmen nicht vorhatte sich gegenüber der Gesellschaft über den Tod seiner Eltern zu äußern, bedrängten die Reporter die restlichen Gäste, die ebenfalls sehr einflussreiche und wichtige Personen in der Filmwelt darstellten, weshalb letztendlich die Polizei auftauchte, um das Chaos, welches kurz davor war auszuarten, zu stoppen.
Dan konnte sich nicht an viel erinnern, im blieb nur noch das Gedicht, welches er für seine Eltern geschrieben und auf der Beerdigung Fremden vorgelesen hatte, weil man genau dies von ihm erwartet hatte, und Bruchstücke von den restlichen Reden, - in denen auf fünfzig verschiedene Arten beteuert wurde, wie ausgesprochen großzügige, liebenswerte und unterstützende Freunde, Kollegen und Eltern beide waren-, von so unwichtigen Leuten, dessen Gesichter und Namen Daniel längst vergessen hatte, im Gedächtnis.
Daniel ging es schon vor der Beerdigung schlecht, sowohl körperlich, als auch geistig, er hatte seit Tagen nichts gegessen und seine Medikamente abgesetzt, weil es ihn einfach nicht mehr interessierte, ob am Leben war oder nicht; leben tat er schon eine ganze Weile nicht mehr; aber während des Begräbnisses hatte sich sein ohnehin schon instabiler Zustand verschlimmert. Er hatte kaum noch Luft bekommen, als ihm klar wurde, mit wie vielen fremden Menschen er heute interagieren musste und vor versammelter Mannschaft etwas Persönliches vortragen. Selbst nach einer halben Stunde konnte er sich nicht beruhigen, atmete heftig, weil das Gefühl, seine Kehle sei zugeschnürt, komplett Besitz von ihm ergriffen hatte, zitterte am ganzen Körper, während er unruhig seine langen, dürren, knochigen Finger gegen seinen schmerzenden Bauch presste und hätte Dan in letzter Zeit Nahrung zu sich genommen, dann wäre sein ganzer Mageninhalt schon längst (an diesem Tag), aufgrund seiner panischen Angst, wieder oral entleert worden, aber da dies nicht der Fall war, zog sich sein Magen einfach zusammen, würgte und nichts kam, weshalb er minutenlang gekrümmt und verschwitzt vor der Kloschüssel gekauert hatte und kaum in der Lage war etwas scharf zu sehen, weil die Tränen in seinen brauen Augen ihm die Sicht gestohlen hatten.
Nach einer weiteren Stunde und ein paar Schmerztabletten und anderen, ärztlich verordneten Pillen konnte er aufstehen und sich fertig machen. Die Wirkung hatte jedoch nicht allzu lange angehalten, spätestens als die Reporter fast schon aggressiv in die Kirche eindringen wollten, war Dan erneut zusammengebrochen. Danach musste ihn wohl jemand, der wenig über seinen mentalen Zustand informiert war, nach Hause gebracht haben; da er komischer Weise in seinem Bett im METROPOL aufgewacht war, als Jayden die Wohnung betreten wollte; anstatt, wie üblich, übersät mit tausenden von Schläuchen im Krankenhaus; seit dem Tod seiner Eltern.
„Hey, Dornröschen, Zeit wieder der Realität ins Auge zu blicken", rief Jayden lächelnd, der wahrscheinlich in der Zwischenzeit aufgestanden war, als er bemerkte, dass Daniels Gedanken auf Wanderschaft gegangen waren, um etwas zu holen und nun nach der Richtung, aus der seine Stimme kam, zu Folge vor dem weißen Tisch mit der üblichen Hochglanzoberfläche stand.
„Ohne Kuss geht gar nichts...", scherzte Dan, selbst überrascht über die Tatsache, dass er immer noch in der Lage war derartig unbekümmerte Bemerkungen hervor zu bringen, dennoch war das Lächeln, welches er gerade noch so aufbrachte, immer noch nicht echt.
Dan, der seine Augen weiterhin geschlossen hielt, weil sie leicht brannten, hörte wie Jayden vorsichtig etwas, oder zwei Dinge, abstellte, die den gleichen Laut von sich gaben, wie Gegenstände aus Keramik, die niedergesetzt wurden.
Die nächste Handlung Jays brachte Daniel völlig aus dem Konzept; gerade als er die Augen öffnen wollte, um zu sehen, was sein fragwürdiger Gast da heimlich fabrizierte, spürte er etwas sehr warmes und weiches auf seinen Lippen.
Schlagartig öffnete Dan seine Augen, um sich zu vergewissern, dass er nicht wieder halluzinierte und unter anderem auch, weil er nicht ganz verstand, was vor sich ging. Er war zu überrascht; zu überwältigt. Jayden küsste ihn, er küsste ihn tatsächlich und Daniel entzog sich diesem Kuss nicht, hielt ihn nicht auf; erwiderte ihn aber auch nicht. Nur für eine Sekunde gab er sich ihm hin, einen kurzen Augenblick spielte er mit, bevor er seinen Kopf wegdrehte und Jay sanft von sich wegschob, um ihm zu signalisieren, dass er es nicht wollte.
Es lag nicht daran, dass der Tod seiner Eltern noch so frisch war oder daran, dass Jayden ein Mann; Dan hatte schon vorher hin und wieder etwas mit Männern angefangen, auch, wenn er Frauen in der Regel anziehender fand und bevorzugte,; verdammt noch mal, die Person, in die er seit zwei Jahren verliebt gewesen war, gehörte dem männlichen Geschlecht an; aber auch sein Schwarm begründete Dans Zurückhaltung nicht; aber er brauchte auch keinen Grund, um nicht mit jemanden schlafen zu wollen. Wobei er ganz genau wusste, dass er Jay, der in Daniels Augen wirklich attraktiv aussah, nur widerstand, weil er mit jemanden schlafen wollte, den er wirklich kannte; sich ihm verbunden fühlte. Jayden hingegen schien suspekt, zu weit weg und nicht erreichbar; er würde Dan fallen lassen, sobald er ihn einmal gefangen hatte; ohne mit der Wimper zu zucken. Er durfte ihm niemals zu nahe gekommen. Natürlich würde er dieses intime Geheimnis für sich behalten, wie die anderen, schwerwiegenderen Sachen.
„Gut, dass ein Prinz in deiner Nähe war, sonst würdest du immer noch träumen."
Jayden ging auf Dans Reaktion nicht ein; es war nicht mal ein verlangender oder intensiver Kuss gewesen.
Ungerührt umrundete er den Tisch und setzte sich dicht neben Daniel, sodass ihre Arme sich berührten, daraufhin reichte er Dan eine Tasse Kakao, welche vorhin in der Designerküche vorbereitet geworden war, und nahm sich letztendlich auch sein eigenes Gefäß in die Hand. Beide nippten vorsichtig an ihrem Getränk und verbrannten sich trotzdem gleichzeitig beim ersten Schluck an der heißen Brühe; jedoch reagierten der eine gelassen mit einem leisen Fluch und der andere mit einem kurzen Zucken der Achseln, als wären sie es schon gewöhnt; danach füllte eine angenehme Atmosphäre den Raum.
Normalerweise würden sich in Dans vernebelten Kopf die unzähligen und auch unnötigen Gedanken über die Kalorien seiner Nahrung bemerkbar machen, weswegen er sich meistens gegen die Einnahme entschied, aber jetzt gerade herrschte seltene Ruhe in seinem Gehirn; alles schien egal zu sein; außerdem konnte er bei den ganzen Minustemperatur in der Wohnung ein bisschen Wärme gut ertragen, nicht, dass die momentane Kälte eine Rolle spielte, da ihm immer kalt war.
Dan nahm einen weiteren Schluck und genoss den Kakao auf seiner Zunge, den fast vergessenen, süßen Geschmack in seinem Mund, und sah letztendlich auf und somit direkt in klare, blaue Augen.
„Tut mir leid, dass ich vorhin so... abwesend war", flüsterte er leicht peinlich berührt.
Er fand es unfair gegenüber seinem Gast, der extra von Amerika nach England geflogen war, um ihn zu trösten und sich dann auch noch so beeilt hatte, dass er nicht mal die Zeit zum Abtrocknen und Umziehen bei den zwei Männern, die im unteren Stock wohnten, gefunden hatte, sondern gleich klatschnass vor Dans Tür aufgetaucht war. Dieses Benehme gehörte sich einfach nicht, es wirkte undankbar, was er aber nicht war. Daniel mochte vielleicht überrascht und etwas überrumpelt ausgesehen haben, aber innerlich hatte sich eine kleine Erleichterung breit gemacht, als Jay das Apartment betreten hatte.
„Hey, nichts los. Ich verstehe, du machst gerade eine schwere Zeit durch und es ist völlig okay. Niemand erwartet, dass du von heute auf morgen wieder der kleine Sonnenschein, -der du vor diesem... ‚Ereignis' warst-, wirst."
Jayden sah ihn verständnisvoll an, während die sorgfältig ausgewählten Wörter über seine rosaroten Lippen glitten. Es machte ihm wirklich nichts aus und Dans Zustand ging ihm bis zu einem gewissen Punkt wirklich nahe.
„Kleiner Sonnenschein?", erschöpft zwang sich Dan zu grinsen und brachte sogar ein halbwegs authentisches Lachen, dass urplötzlich aus ihm rausgesprudelt kam, immer lauter und hysterischer klingend, gefolgt von schrillen Wiederholungen der Wörter, die ihn so belustigt hatten, und abgehackten HAHAHAs, die seine Sprechversuche, die man ohnehin aufgrund der ungewöhnlich hohen Tonlage nicht verstand, unterbrachten, hervor.
Er war wirklich über diesen Begriff amüsiert, zumal er überhaupt nicht damit gerechnet hätte, dass Jayden ihn so bezeichnen würde; nur erforderte das ganze „glücklich sein" zu viel Energie; die Art von Energie, die er seit Wochen nicht mehr hatte, weshalb seine müden Augen aufs Mitlachen verzichteten.
Jay versuchte erst gar nicht sein Gelächter zu unterbrechen; als Daniel so unerwartet und fast schon passiv aggressiv zu lachen anfing, konnte sich selbst auch nicht zurückhalten und stimme laut mit ein, weshalb die rotstichige Farbe seines Kopfes sich stark von der restlichen seines Körpers abhob. Selbstverständlich beruhigte sich Dan um einiges früher als sein Kollege, der schon vermutet hatte, dass alles nur eine kleine Showeinlage gewesen war.
Die Tatsache, dass Jayden Daniel kaum kannte verursachte diese Unsicherheit. Sie sahen sich zu selten, vernachlässigten den Kontakt und spielten dem anderen immer wieder etwas vor. Der eine tat dies, weil er es nicht riskieren konnte, dass Jay zu viel Interesse an ihm entwickelte und ihn dadurch mit ins Rampenlicht zog, und der andere, weil er es töricht wäre, Daniel sein wahres Ich zu zeigen, und eventuell durch seinen Ruf, der unter die Kategorie "schlecht" eingeordnet werden könnte, wenn Dan etwas ausplauderte, seine Einnahmequelle, sein luxuriöses Leben als Model und Blogger zu verlieren.
„Du musst dich nicht verstellen, Dan.", log der Blauhaarige, der sein Grinsen gegen eine ernste Mine getauscht hatte, als ihm Daniels Leid bewusst geworden war: „Nicht heute."
Dan schwieg; ihm war nicht nach Gefühlsduseleien zu mute.
Auf die Stille hin seufzte Jayden, als hätte er die Hoffnung verloren; er mochte vielleicht nicht viel über den traurigen, schönen Jungen wissen, aber er merkte, wann es Zeit war mit der einen Methode aufzuhören und der anderen anzufangen. „Ich kann dir helfen; dich abzulenken ... dich glücklich zu ma-"
"Woah, Kumpel .. I-Ich will keinen Sex mit dir", platze es Dan, der sich warnend aufgerichtet und gleich darauf verunsichert von Jay weggerückt war, heraus; entlockte aber auch gleichzeitig mit dieser Aktion seinem Gast ein lautes, herzhaftes Lachen.
"Ich meinte eher eine andere Hilfe..", begann Jayden mit einem zweideutigen Unterton sein moralisch verwerfliches Angebot zu erläutern, weswegen er aus seiner -mittlerweile getrockneten- Hosentasche ein rundes Döschen, welches durch die metallische Verpackung niemandem Einblick auf den dubiosen Inhalt gewährleistete, hervorholte und mit einem schiefen Grinsen das Gefäß vor Dans Augen schüttelte, sodass ein "Klick-Klack"-Geräusch die ganze Wohnung füllte.
Natürlich realisierte Daniel, der immer noch versteift dasaß, unmittelbar, wie gefährlich diese Situation ausgehen konnte, also hielt er sich an den kleinen, vernünftigen Jungen in sich fest und lehnte dankend, aber dennoch überzeugt ab: "Wenn ich Pillen will, besuche ich meinen Therapeuten, Jayden."
Er schüttelte erneut das Döschen und sah Daniel nachdenklich an, während er seinen Kopf zur Seite legte: "Diese machen aber wirklich glücklich."
"Ich darf nicht rückfällig werden.", flüsterte Dan, verzweifelt versuchend sich an seine Überzeugung festzuhalten; denn, es fehlte nicht mehr viel, bis er sich wieder zum kaputte 14-jährige Junge, der von einer Klinik zur nächsten verlegt werden musste, verwandelte. Es kostete ihn viel Energie nicht auseinanderzufallen; ganz zu bleiben.
"Wegen dem einen Mal?", Spott, purer Spott triefte aus seinem Mund.
Energisch erhob sich Dan von der Couch, schlug Jaydens Arm vor seinem Gesicht weg und forderte ihn mit einer Handgeste auf zu gehen. Er war sauer; das Verspüren dieses Gefühls kam sehr selten bei Dan vor, aber die ganze Situation, die einfach nur als falsch bezeichnet werden konnte, ließ ihn vor Wut die Hände zu Fäusten ballen.
Drogen schadeten ihm; er würde alles kaputt machen, was seine Eltern versucht hatten aufzubauen. Das hier war keine Freundschaft; das hier war Gift, das ihn zu Fall bringen würde, wenn er nicht aufpasste. Die Distanz zu Jay war seit Jahren der größte Schutz für ihn gewesen, aber nun fühlte er sich als sei er nackt und schutzlos.
Jayden war Dans Vergangenheit und auch seine Probleme bekannt; er hätte dieses Angebot niemals machen dürfen und erst recht nicht weiterhin auf die Einnahme bestehen.
"Bitte geh jetzt.", befahl Dan die Zähne zusammenbeißend.
Jay schien zwar über die Abweisung irritiert zu sein, überspielte es aber geschickt, lehnte sich weiterhin zurück und beobachtet ausdruckslos den aufgebrachten Gastgeber.
"Sei kein Spielverderber.", riet er spöttisch; machte keine Anstalten Dan den einen Gefallen zu tun. "Ist nichts Hartes, du wirst es mögen. Vertrau mir, es wird dir danach viel~ besser gehen."
Ungläubig und mit offenem Mund sah Dan den Blauhaarigen an und erhob mit jedem ausgesprochenen Wort seine vor Enttäuschung und Verständnislosigkeit zitternde Stimme: "Was. Zum. Teufel. IST. DEIN. SCHEISS. PROBLEM?! VERFLUCHTE SCHEISSE WIESO SOLLTE ICH? WIESO WILLST DU ES SO SEHR?!"
Jayden zog die Augenbrauen hoch und sah nicht weniger überrascht als sein Gegenüber aus. "Ich will nicht mehr zusehen müssen, wie du in deinem Selbstmitleid badest."
Bevor Dan antworten oder ihn weiter anbrüllen konnte, weil a) Jay unheimlich wenig mit Daniel zu tun hatte und demnach b) ihn höchsten zwei Mal im Jahr traf, als, dass er behaupten könnte, er sehe sich hier etwas an und c) diese dreiste Art, diese Taktlosigkeit, so unerträglich widerlich schien, wurde er am Handgelenk gepackt und auf die Couch runtergezogen. Seiner Sprachlosigkeit half es auch nicht unbedingt, als sich Jayden auf Dans Schoss setzte und gleichzeitig die Arme seines Kumpels über dem Kopf ans Sofa gedrückt festhielt, um Gegenwehr auszuschließen. Er blickte fast besorgt in die endlos wirkenden, tiefbraunen Augen und sprach mit gesenkter, ruhiger Stimme; eine Tonlage, die er selten wählte, aber den vorhin noch panisch herumzappelnden Jungen unter ihm beruhigte: "Wann hast du das letzte Mal bitte gegessen? Ich wäre fast gestorben, als du die Tür aufgemacht hast, weil du weißer als die Wand hier bist und so aussiehst als würdest du jeden Moment sterben!" Unabsichtlich nahmen seine Worte einen harschen Unterton an, wurden aber gleich wieder leiser und allmählich flehend: "Wäre es wirklich so schlimm, wenn du nur für heute abschalten könntest?"
Das Wehren hatte mittlerweile komplett aufgehört, nur die unerträgliche Stille füllte die Wohnung; Dans Blick abgewandt und erschöpft, Jaydens erwartungsvoll und durchbohrend. Der Griff wurde gelockert und Jay erhob sich leise, nachdem sich Daniel immer noch nicht auf irgendeine Art geäußert hatte; dies führte zu der Annahme, dass Jayden das Spiel verloren hatte und besser gehen sollte.
Abmarschbereit startete er einen Versuch nach dem Döschen zu greifen, scheiterte jedoch, da sein Handgelenk von dem braunhaarigen Jungen, der das Gefäß in der rechten Hand festhielt, umfasst wurde.
"Setz dich wieder hin.", bot Dan mit zittriger Stimme an, während er ihn unsicher und zweifelnd ansah.
Mit einem Anflug eines Lächeln akzeptierte er den Vorschlag. Das Spiel ging weiter.
Wortlos drehte er das Gefäß herum, hielt es skeptisch vor sich hin und schüttelte es, um dieses beruhigende "Ting-Tong" Geräusch vernehmen zu können.
"Das ist dumm.", waren die letzten Worten, die ihm über die Lippen kamen, bevor er das Döschen öffnete, einen Teil des Inhaltes in seine Handfläche kippte, die Pillen zu seinem Mund führte und alles auf einmal schluckte.
Jayden sah ihn etwas überrascht an, da er nicht davon ausgegangen war, dass sein Freund die Tabletten tatsächlich zu sich nehmen würde, nachdem er bestätigt hatte, dass es eine Dummheit sei. Dan blickte ihn darauf hin ausdruckslos an; weshalb Jay mit den Achseln zuckte und aufstand, um zur Küche gelangen. Während seines Weges rief er als Aufklärung Dan zu, er hole ihm ein Glas Wasser, weil das Ding seinen Mund extrem austrocknen würde.
"Was habe ich überhaupt eingenommen?", brüllte der andere, als Jay hinter der Theke stand.
"Wirst du schon sehen.", antwortete der Blauhaarige mit einem schiefen Grinsen und in seiner aufgeregt klingende "Es-Ist-Eine-Überraschung"-Tonlage.
Die nächsten dreißig bis vierzig Minuten verbrachten sie damit Mario Kart auf der Wii zu spielen, danach wurden die ersten Anzeichen des Drogenkonsums bemerkbar. Dans Pupillen erweiterten sich immens und er trank in einer sehr kurzen Zeit sehr viel Wasser, was nicht unbedingt ratsam war, da der Körper nicht in der Lage ist eine so große Menge an Flüssigkeit in solch einem kleinen Zeitraum aufzunehmen. Jedoch überzeugte erst sein unübliches Verhalten Jayden davon, dass die Pillen ihre Wirkung entfaltet hatten. Auf ihn wirkte der schöne Junge schon sehr viel wacher, auch etwas aggressiver, aber, wenn's um Videospiele ging, gestaltete es sich als eine äußerst leichte Aufgabe Dan aus der Haut fahren zu lassen, und vor allem unbeschwerter. Natürlich lachte Dan viel und gern, aber heute hatte er nur allen ein ermüdendes, altes Stück vorgespielt; bis er eben Jaydens Angebot angenommen hatte. Egal wie dumm und flach Jays Witze schienen, Daniel brachte trotzdem ein herzhaftes Lachen hervor und hörte erst dann auf, wenn man aufgrund seiner Gesichtsfarbe ihn mit einer Tomate verwechseln konnte.
"Ey Mann, du hattest recht, ich fühl mich schon viel leistungsfähiger!", gestand er grinsend und dann in Kichern ausbrechend, getrübt von den ganzen Stoffen, die in seinem müden Gehirn freigesetzt wurden; jedoch immer noch in der Lage die letzte Runde zu gewinnen. "ICH BIN UNBESIEGBAR! FRISS DAS!"
Dan schleuderte den Controller auf die weiße Couch, stand energisch auf und machte einen kleinen "Victory-Dance". Bei dem Anblick konnte Jayden nicht anderes, als hysterisch zu lachen und dabei in die Hände zu klatschen. Es war alles so absurd und lächerlich.
"Das war ja nicht mal ne hohe Dosierung, chill.", quietschte er immer noch benommen von dem ganzen Gelächter.
Daniel erwiderte daraufhin nichts, schmiss sich stattdessen lachend wieder aufs Sofa, achtete nicht darauf, dass seine Hand auf einen sehr intimen Körperbereich Jaydens landete; während der Blauhaarige dieses Ereignis sehr wohl registrierte.
"Willst du jetzt mit mir schlafen?"
Jays Gesicht verzierte ein breites, selbstbewusstes Grinsen, seine Augen hingegen betrachteten den braunhaarigen Jungen fragend und gierig.
"Nope."
Nachgeben war für keinen der beiden eine Option. "Angst du könntest mir verfallen, Howell?"
"Ich bin nicht so schwach." Das Grinsen wurde von einem wütenden Zähne-Zusammenbeißen abgelöst.
"Beweis es."
Keine Antwort. Dafür ging Jaydens Hand auf Wanderschaft; hielt sich überwiegend im Oberschenkel- und Schrittbereich auf.
"Hör auf."
Dan versuchte sich den unerwünschten Berührungen zu entziehen, kam sich unverletzbar vor. Trotz seinen vergeblichen Versuchen zeichnete sich in seinem Gesicht keine Verzweiflung ab, wahrscheinlich realisierte er das Geschehnis nicht mal richtig. Mit jeder Ablehnung und jedem Wegstoßen wurde Jaydens Ehrgeiz nur weiter angestachelt. Jay, der mittlerweile Dan der Länge hin aufs Sofa gedrückt hatte und sich zu ihm runter lehnte, wurde etwas gröber, aber seine Bewegungen blieben dennoch sanft genug, um erregend zu wirken. Daniels Proteste verstummten schlussendlich ganz und er verlor das Spiel erneut.
Völlig von Drogen vergiftet fing er an zu lachen und scherzte: "Please be gentle, Senpai."

The Tragedy Of The Pretty Boys [Phan]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt