Kapitel 2 - Theo

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Mit Kopfhörern in den Ohren begab ich mich zur nächsten Bushaltestelle, welche nur einige Minuten entfernt war. Mehr auf die Umgebung achtend, vergaß ich die Musik, welche mich begleitete. Ich durchquerte das Wohnviertel, in welchem auch unser Haus stand. Ein Gebäude glich dem nächsten. Es ist nichts Besonderes. Ich bin nichts Besonderes. Ich liebe die Welt dafür, dass sie, mit der Hilfe von Metaphern, mir klar macht, dass ich ein selbstbewusstes Nichts bin und wie die Häuser Einer von Vielen bin. Die Umgebung schien karg und still, beinahe tot. Nichts bewegte sich. Niemand kam mir entgegen. Kein Auto zwang mich die Straße zu verlassen. Zugegeben, es war noch recht früh, aber die Welt hätte schon längst erwachen sollen, jedoch verharrte sie in ihrem Dornröschenschlaf. Meine Motivation von eben verschwand durch das triste Umfeld. Ich senkte meinen Kopf, steckte meine Hände in die Jackentaschen und verlangsamte mein Schritttempo. Mein Kopf war leer. Die positiven Gedanken waren genauso wie meine Motivation verschwunden und ließen eine leere Hülle zurück, die sich auf den Weg zur Universität machte. Die Musik gewann wieder die Oberhand, aber anstatt mein Gemüt aufzuheitern verschlimmerte sie nur meine negative Einstellung zur momentanen Lage. Der Sänger verstärkte meine melancholische Haltung mit seiner tiefen Stimme. Ich entschied mich, die Musik auszuschalten, weil ich nochmal versuchen wollte neue Energie aus meinem Inneren zu schöpfen. Der Himmel war noch bedeckt, aber die Sonne lugte schon hervor. Erste Zeichen einer Besserung.

Ich blieb vor einem Haus stehen. Es war kein normales Haus, obwohl es wie die anderen aussah. Dieses Haus ist voll mit alten Erinnerungen, die heute keine einzige Relevanz mehr haben. Es sind Schatten einer ehemaligen Zeit, die eher bedrohlich und nicht beglückend wirken. Hämisch dringen sie in meinen Kopf ein und lassen mich einen längst vergessenen Schmerz wieder spüren. Ich blicke auf den ehemals bunten Briefkasten. Die Farben sind schon lange verblasst. Das Haus erschien grau, obwohl früher eine positive Aura es umhüllte. Auf dem Briefkasten steht: Familie Hellmann. Die einzige Familie, zu der ich einen Bezug hatte, aber seit Jahren habe ich die Leute bewusst nicht mehr gesehen. Ich wollte eine unangenehme Situation umgehen – Konfliktvermeidung eben. Früher, ich weiß es noch ganz genau, war ich fast jeden Tag dort gewesen. Tobias, der Sohn der Familie Hellmann, war mein bester Freund. In der Grundschule sowie in der Oberschule hatten wir eine Freundschaft, für die andere töten würden. Alles, wirklich alles, hatten wir uns anvertraut, selbst persönliche Details. Wir hatten die Idee einen eigenen Comic zu schreiben und reich zu werden – ein Traum geprägt von kindlicher Naivität. Ich weiß es noch wie heute, dass wir in seinem Zimmer auf den Teppich saßen und stundenlang Blätter bekritzelten, uns Geschichten ausdachten und anschließend aufschrieben. Wir waren und sind kreative Köpfe, deren Fantasie grenzenlos ist. Am Ende wurde zwar jede Idee verworfen, aber mal ehrlich „Marshmallow-Man" oder der „Steak-Sheriff" waren keine Figuren, die eine Chance verdient hätten, aber es zählte nur der Moment, nicht das Ergebnis. Ich vermisse diese unbeschwerte Zeit. Ich vermisse das Lachen. Ich vermisse diese Freundschaft. Es endete hässlich. Worte, die alles zerstörten, wurden gesprochen und andere, welche die Situation gerettet hätten, wurden verschwiegen. Niemand wollte nachgeben. Wir wollten beide derjenige Sein, der den anderen vernichtet. Am Ende gab es keinen Gewinner. Das Ergebnis war Hass auf den jeweils anderen und niemand hat versucht etwas zu unternehmen. Die Zeit hat letztendlich das Ende herbeigeführt und den Schlussstrich gesetzt. Aus Freunden wurden Fremde.

Ich ging zum Briefkasten und strich kurz über die Lettern. Ohne noch einmal an Tobias zu denken ging ich weiter. Ein paar Vögel zwitscherten und die Sonne hatte die Wolken vertrieben, meine Laune erhellte sich. Die Schwere von eben war weg und insgeheim war ich mehr als glücklich darüber. Das Wohnviertel wachte auf. Die ersten Nachbarn gingen mit ihrem Hund spazieren. Der alte „Hollon", ein schräger Vogel aus unserer Nachbarschaft, beobachtete die Hundebesitzer und warte darauf diese zu ermahnen oder auch zu bedrohen, wenn er noch einmal einen Haufen auf seinem Grundstück entdecken würde. Die Meisten ignorierten ihn, denn am frühen Morgen wollte niemand eine Diskussion mit einem Tattergreis beginnen. Ich begrüßte ihn, bekam aber keine Reaktion. Schulterzuckend ging ich weiter, die Bushaltestelle befand sich direkt vor mir. Hinter mir hörte ich den alten Hollon brüllen, dass diese Hunde ausgerottet werden sollten. Der Hundebesitzer kommentierte den Ausruf mit einer Gelassenheit, die den alten Hollon mehr als nur störte. Ich hörte nur noch, dass eine Haustür zugeschmissen wurde.

An der Bushaltestelle angekommen setzte ich mich auf die Bank. Ich war allein - in mehrerer Hinsicht. Ich sah auf meine Uhr. Ein leises Stöhnen entwich meiner Kehle, als ich registrierte, dass ich noch 12 Minuten ausharren müsste. Die Umgebung wollte ich nicht betrachten, weil es mich zum Nachdenken verleiten würde und meine Stimmung sollte so positiv wie möglich bleiben. Musik erschien mir auch nicht als die Musterlösung. Ich ging die Bibliothek auf Spotify durch und entdeckte ein paar ältere Podcasts, die ich mir für solche Augenblicke heruntergeladen hatte. Die meisten waren nicht mehr wirklich aktuell. Schließlich fand ich eine Folge, in welcher die Anwesenden darüber diskutierten, ob Tiere auch politische Rechte erhalten sollten. In der Regel weigere ich mich Philosophie-Podcasts zu hören, aber ich hatte keine Alternative. Ich ließ mich also auf dieses Experiment ein. Der Redner war nicht begabt, aber das Thema wurde meiner Meinung nach gut eingeleitet mit einer schönen Anekdote. Ins Detail will ich nicht gehen, aber in der Mitte wiederholten sich die Sprecher und drehten sich im Kreis, sodass ich anderen Dinge meine Aufmerksamkeit schenkte.

Der Bus kam endlich mit drei Minuten Verspätung, aber ich bin nicht der Mensch, der sich darüber beschwert – ändern kann ich ohnehin nichts. Der Bus war wie die Haltestelle leer. Ich begrüßte den Busfahrer, der aber nur mit einem Schnauben antwortete. Ich gewann mir ab nichts hinein zu interpretieren, auch wenn die Verlockung groß war. Ich setzte mich mittig hin und sah aus dem Fenster. Ich zählte die Autos, dann die Radfahrer und am Ende dachte ich nur noch nach über meinen anstehenden Tag in der Universität. Obwohl ich am Morgen gelassen war, so stieg meine Aufregung pro Sekunde. Manchmal überkam mich der Drang zu brechen. Die Versuche mich zu beruhigen verschlimmerten meine Situation. Das Herz klopfte gegen meine Rippen. Mein Mund wurde ganz trocken.

Ich muss wohl verliebt sein. Ich habe immer gelesen, dass es typische Symptome für Liebe ist, dachte ich mir, um mich selbst zu beruhigen, aber selbst mein genialer Humor konnte meine selbst verschuldete Aufregung nicht verdrängen.

Die roboterhafte Stimme verkündete die Ankunft an meiner Zielstation in vier Minuten. Die Aufregung erreichte ihr Maximum. Mein Puls raste, die Hände wurden feucht und die Kehle glich einer Sandwüste. Schlucken fiel mir immer schwerer. Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. Geholfen hat es nicht, nicht mal annähernd. Der letzte Versuch bestand darin nochmal aus dem Fenster zu gucken. Aus einem Zufall heraus erkannte ich einen Unfall. Ein Auto musste wohl den am Boden liegenden Fahrradfahrer angefahren haben. Für wirkliche Details war die Zeit zu kurz. Ich hoffte, dass dem kleinen Jungen nichts passiert wäre und war im Anschluss über die Busfahrt mehr als froh. Der Unfall beseitigte meine Aufregung, es gab Menschen deren Tag schlimmer ist als meiner. Dieser kurze Energieschub überkam mich als wir auch die Station an der Universität erreichten – so viele Zufälle auf einmal.

Strotzend vor Motivation schritt ich in Richtung des Campus. Menschen, besser gesagt Jugendliche standen in Gruppen zusammen und unterhielten sich energisch. Weil ich nicht allein stehen wollte entschied ich, mich einer Gruppe anzunähern. Ohne wirklich ein Ziel zu bestimmen ließ ich auch hier den Zufall die Entscheidungsgewalt, doch dieses Mal sollte er mich enttäuschen. Kurz bevor ich mich vorstellen wollte sah ich ihn: Tobias. Das Wort blieb mir im Halse stecken und schnürte meine Kehle zu. Ohne darauf zu achten, ob er auch mich gesehen hat, machte ich kehrt. Meine Gedanken überkreuzten sich, es herrschte ein Wirrwarr in meinem Kopf. Es schien mir unmöglich zu denken, zu atmen, zu sprechen. Mir wurde heiß, mir wurde kalt. Ich kämpfte gegen Tränen an und schämte mich zugleich, dass meine Tränendrüse mitmischen wollte. Innerlich schrie ich ohne Ende. Diese Person hat es geschafft, ohne etwas zu machen meinen Mut, meine Motivation, meine Stabilität zu verscheuchen. Ich war nun eine Maus, die versuchte irgendwo Unterschlupf zu finden, jedoch durch Angst gelähmt war. Zitternd nahm ich mein Handy und schaltete die Musik ein. Es lief „Heart on Fire" von A Life Divided - der Zufall war bereit mich zu brechen. Ich flüchtete mit eiligen Schritten vom Campus. Blicke, die ich mir nur einbildete, durchbohrten mich. Mein Kopf nach unten gerichtet kollidierte ich beinahe mit einem Fahrradfahrer, aber ich war überall taub und bemerkte es kaum. An einer Wand lehnend setzte ich mich hin und weinte. Verteufelte die Vergangenheit, Gegenwart in einem.

Darf ich vorstellen? Theodor Ortenburg. Der instabile Jugendliche mit null Selbstbewusstsein, dessen emotionale Hülle so dick ist wie eine Oblate.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 09, 2020 ⏰

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