"Mum, ich schaff das schon. Mach dir keine Sorgen", versuche ich meine aufgewühlte Mutter zu beruhigen, die mich die letzten 10 Minuten vollgequatscht hat und nach allen möglichen Dingen fragte, die ich an meinem ersten Schultag hier vergessen könnte. Schmunzelnd greife ich nach ihren weichen Händen, die vor Aufregung zittern und halte sie fest im Griff. Sanft ziehe ich sie etwas näher zu mir und drücke meine Lippen auf den Haaransatz der kleineren Frau vor mir.
"Ach ich weiß doch, aber diese Stadt... Ich verbinde sie mit keinen guten Erinnerungen. Vielleicht hab ich einfach ein bisschen zu sehr Angst, dass alles wieder hochkommt", murmelt sie, ihre besorgt schimmernden grünen Augen wandern langsam über mein Gesicht. Plötzlich löst sie eine Hand aus meinem Griff und streicht zärtlich mit ihrem Daumen über meine Wange.
"Du siehst ihm so verdammt ähnlich", spricht sie in Gedanken, während sie mit ihrem Finger über meine Lippen zu meinem Kinn fährt.
Solche Momente haben wir in letzter Zeit öfter. Das erste Mal, dass sie so bewusst von meinem Vater gesprochen hat, war vor einer Woche. An einem bewölkten Nachmittag, kurz nachdem der Umzugswagen hinter unseren Rücken losfuhr und uns somit vor unserem neuen Zuhause alleine ließ, hatte sie von ihm erzählt. Sie meinte, mit einem traurigen Lächeln auf ihren schmalen Lippen, dass mein Vater stolz auf uns wäre. Er wäre stolz auf unsere Stärke, die wir in all den Jahren ohne ihm an den Tag gelegt hatten. Er wäre stolz, dass wir wieder zu unserer eigentlichen Heimat zurückgefunden haben.
So standen wir also dort, mitten im Umzugswahn. Mum hatte erst vor kurzem ihren Job verloren, denn die Firma in Köln, in welcher sie immer mit einer solchen Freude gearbeitet hat, war nach längeren Schuldenkämpfen pleite gegangen. So kurzfristig ein kostengünstiges und möglichst nahes Haus zu finden, grenzte am Unmöglichen. Was es schließlich auch sein sollte. Unsere alte Wohnung, dessen Miete meine Mutter schon länger nicht mehr vollständig bezahlen konnte, mussten wir schweren Herzens aufgeben, ohne ein neues Heim gefunden zu haben.
Wir waren am Rande der Verzweiflung, da bekam meine Mutter einen Anruf von einer ehemaligen Freundin, die irgendwo am anderen Ende Deutschlands wohnte. Sie haben stundenlang miteinander geredet, bis meine Mum mit einem breiten Lächeln auf den Lippen in mein Zimmer stürmte und mir mit Freude berichtete, dass sie endlich ein Haus gefunden hat. Auf meine Frage, wo dieses war, nannte sie mir mit einem traurigen Unterton die Stadt und kurz darauf war sie auch schon aus meinem Zimmer verschwunden.
Und ich? Ich saß verzweifelt und den Tränen nahe auf meinem Bett und musste den Fakt verarbeiten, dass wir ganz Deutschland durchqueren würden und zur ehemals besten Freundin meiner Mutter ziehen. Das einzig Gute daran war, dass uns das Haus scheinbar bereits gehörte und wir nichts mehr dafür zahlen mussten. Wieso meine Mutter das Haus nach unserem Umzug nach Köln nie verkauft hatte, war mir ein Rätsel.
Es war schwer, all meinen guten Freunden auf Wiedersehen zu sagen und zu wissen, dass ich sie sehr wahrscheinlich nie wieder sehen werde. Ich hatte ihnen zwar versprechen müssen, ihnen zu schreiben, wenn mir danach sei oder ich jemanden brauchen sollte, um zu reden. Aber das hatte ich nicht geplant. Abschiede waren schon immer schwer für mich, sie mit weiterem Kontakt nur noch schmerzlicher hinauszuzögern, das wollte ich mir nicht antun.
"Es tut mir leid, ich sollte dich jetzt wohl endlich mal gehen lassen, bevor du noch zu spät kommst", meint meine Mutter und reißt mich mit ihrer sanften Stimme zurück ins Hier und Jetzt. Was auch gut so war, ich sollte mich nicht so sehr mit der Vergangenheit beschäftigen. Ich bin schon immer sehr gut darin gewesen, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren und das Vergangene zu verdrängen. Ob dies nun eine gute oder schlechte Eigenschaft meinerseits ist, kann ich nicht wirklich sagen.
"Nicht nur ich! Du solltest an deinem ersten Arbeitstag auch nicht zu spät aufkreuzen, sonst kannst du den neuen Job gleich vergessen", lache ich und ziehe meine Mum noch kurz in eine liebevolle Umarmung. Kaum lösen wir uns voneinander, lehnt sie sich etwas nach vorne und schmunzelnd drücke ich ihr einen Schmatzer auf die Wange.
DU LIEST GERADE
Lost Friend [Kürbistumor]
FanfictionManu und Patrick. In ihrer Kindheit waren die beiden unzertrennlich, bezeichneten sich bereits im jungen Alter als die 'bestesten' Freunde und waren sich so sicher, dass sie dies auch für immer sein werden. Nur leider hatte das Schicksal anderes im...