Kapitel III: Hölle

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Als er und David noch klein waren, hatten sie es geliebt, Krieg zu spielen. Nicht weit weg von ihrer Straße, lag ein abgelegenes Stück Wald, das passenderweise Davids Vater gehört hatte. Er ließ die Kinder dort immer spielen und Baumhäuser bauen. Der Jäger hatte seinem Sohn und dessen Freunde eine ganz eigene Welt geschenkt.

Dort schnitzte ihre Clique immer aus Stöcken Schwerter, bastelte aus Baumrinde Schilder und aus Astgabelungen Steinschleudern. Sie machten sich immer zuvor aus, wer zu welchem Team gehörte und was er dort für eine Aufgabe hatte. Wer war der Anführer? Wer der Schmied? Wer durfte keine Waffen besitzen, weil er den Tag zuvor zu viel Schiss und frühzeitig seinen Stock niedergelegt hatte?

Wer getroffen wurde, war verwundet und musste sich in den dreckigen Boden legen. Zack weiß noch heute, knapp dreißig Jahre später, wie er einmal als Anführer von Team West gegen den Anführer von Team Ost gekämpft hatte. Sein Gegner war David gewesen.

Um die beiden herum lagen alle ihre verwundeten Freunde und als großes Finale bekämpften sich die beiden im Wald bis aufs Blut.

Überall lagen Leichen verstreut und dazwischen die leeren Patronenhülsen eines Sturmgewehrs. Männer, Frauen, Kinder. Blutige Fleischklumpen lagen übereinander, teilweise nicht mehr identifizierbar, worum es sich zu Lebzeiten überhaupt gehandelt haben musste. Voller Leben war der menschliche Körper zu einer Vielfalt an erstaunlichen Leistungen fähig. Liebe, Hass, Romantik, Trauer, dem Erschaffen kulturell unbezahlbaren Wertes, von dem noch ein Dutzend Generationen nachher gelehrt und philosophiert wird. Doch hat der Mensch erst seinen letzten Atemzug getan, ist er nicht mehr als eine leblose Hülle aus Fleisch und Blut und natürlich auch Exkrementen.

Was Zack im Rahmen seiner Karriere bisher schon alles seinem gebrechlichen psychischen Zustand zumuten musste. Er hatte gelernt, nicht länger als unbedingt nötig auf so schreckliche Dinge wie Leichen oder eben Leichenteile zu starren. Sein ohnehin schon genug geschundener Geist würde es ihm danken und seine Arbeit würde deswegen auch nicht schneller oder besser gemacht werden. Was für eine kalte Welt, in der sich die Menschen versuchten warm zu halten.

Dieser Devise folgend beachtete er das Gemetzel um ihn herum möglichst minimalistisch. Er stand nun am Fuße einer noch funktionierenden Rolltreppe, die ekelerregende Geräusche von sich gab. Ein Teil eines menschlichen Dickdarms hatte sich verheddert, so wippte dieser auf dem zackigen Ende hin und her, während jede folgende Stufe versuchte, diesen mit in den Mechanismus zu ziehen. Der Rest der Rolltreppe - blutüberströmt. Zacks Blick huschte sofort wieder nach oben, er schloss die Augen, eine Schweißperle rann ihm zwischen die Lider, es brannte. Er war in der Hölle angelangt.

Wie schon heute Morgen schlug ihm das Herz bis zum Hals. Vor ihm erschien wieder die schreckliche Szenerie in dieser Villa. Die Kinder - verdreckt und verstümmelt - in ihren Käfigen. Etwas schnürte ihm die Luftröhre zu und der Platz in seiner Brust wurde immer enger und enger. Zack stand kurz vor einer Panikattacke. Nein, das konnte er sich jetzt nicht erlauben. Er versuchte ruhiger zu atmen und dieses Bild des Schreckens durch das seiner Frau zu ersetzen.

Luisa, wie sie nackt im Bett lag. Ihr Kopf auf seiner Brust und mit dem Finger die Tätowierung auf seiner Schulter nachzeichnend. Eine schöne Erinnerung. Das Gefühl der Geborgenheit und Wärme versuchte sich vorsichtig in seinem Herzen auszubreiten. Langsam verblasste die Farbe des ersten Bildes und das seiner Frau wurde klarer. Er hatte sich gerade noch beruhigen können.

Außer dem ekelhaften Geräusch der Rolltreppe herrschte Totenstille im gesamten Komplex des Einkaufszentrums. Doch diese Stille verblieb nur so lange, bis sie plötzlich durch ein technisches Dröhnen durchbrochen wurde: "ICH DACHTE, ICH HABE MICH KLAR AUSGEDRÜCKT!? ICH HABE HIER EINE HAND VOLL LEBENDIGER GEISELN! EINEN SCHRITT WEITER UND ES SIND EIN PAAR WENIGER!", kam es aus den Lautsprechern.

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