0. Die Nacht

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Wie ein Mantel aus Dunkelheit und Sternenlicht lag die Nacht über der Stadt und tauchte die kleine Wohnung in Finsternis. Mit der Nacht kam das Unbekannte und mit dem Unbekannten die Angst. Aber Liam mochte die Angst, und so mochte er die Nacht. Es war ein berauschendes Gefühl, das alles andere verdrängte, etwas, das den Körper belebte und trainierte. Leider verspürte er nicht den leisesten Hauch von Angst, während er aus dem Küchenfenster sprang. Es lag nicht weit oben; sie wohnten im Erdgeschoss, aber es bestand doch die Gefahr, ungeschickt zu landen und die Aufmerksamkeit des Hundes im Haus nebenan zu wecken.

Doch der Hund war nicht da. Er und seine altersschwache Besitzerin waren vor einer Woche verreist- oder abgehauen. Diese Stadt war nicht wirklich etwas, was man sich auf seine letzten Lebensjahre antun musste. Willmoore war eine schöne Stadt, zweifellos. Von der Altstadt war nach dem Großen Krieg noch viel übrig geblieben und so reihten sich niedliche Fachwerkhäuschen und imposante, doch gemütliche Gebäude neben hochmodernen Villen und Wohnblöcken. Aber die Nacht, die Nacht war alles andere als schön. Selbst diejenigen, die in die Sterne vernarrt waren, hassten sie. Liam war wohl der einzige Mensch, der sich nach Einbruch der Dunkelheit noch vor die Haustür wagte.

Mit angehaltenem Atem huschte er in die Schatten einer Mauer; es war besser, wenn ihn niemand sah. Eine minimale Bewegung am Ende der Straße ließ Liams Puls in die Höhe schnellen. Niemals hatte sich nachts etwas in diesem Teil der Stadt bewegt.

Sie breiteten sich aus.

Das berauschende Gefühl der Angst begann in seinem Bauch zu kribbeln und es juckte ihn in den Fingerspitzen, die Pistole zu ziehen. Er schloss seine Finger um den kalten Griff an seinem Gürtel, aber nein. Das wäre unnötig. Es hier zu erschießen erschien Liam sinnlos. Er beschleunigte seine Schritte und zog sich die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht. Die Kälte, die immer beißender wurde, zwang ihn wie jedes Mal fast, umzukehren, doch er biss die Zähne zusammen und schob seine Hände in die Jackentaschen. Ihm standen sämtliche Haare zu Berge.

Wieder ein Huschen, diesmal gefolgt von einem heiseren Seufzen. Liam erstarrte auf der Stelle. Das Blut gefror ihm in den Adern uns er wagte es kaum, zu atmen. Das Seufzen war nicht vom Ende der Straße gekommen. So sehr Liam auch herumfahren und schießen wollte, die Kälte, die sich nun auch hinter ihm ausbreitete und seine Brust wie mit eisernen Bändern zuschnürte, sagte ihm, dass auch die leiseste Bewegung seinen sofortigen Tod bedeuten könnte.

Wieder das Seufzen und ein Schaben. Es kam näher. Es war als könne Liam den eisigen Atem im Nacken spüren, das verrottete Herz hören, das schwarzes Blut durch einen kaum fassbaren Körper pumpte, als könne er den Geruch von Tod, Verzweiflung und Rauch riechen.

„Du glaubst, ich sehe dich nicht", schnarrte eine Stimme, so nah an Liams Ohr, dass er nun tatsächlich Atem auf seiner Haut fühlte. Sein Herz übersprang schmerzhaft ein paar Schläge und Liams Eingeweide gefroren vor Angst. Plötzlich mochte er das Gefühl gar nicht mehr und drohte, daran zu ersticken. Seine einzige Chance, sich herumzudrehen und das Wesen zu erschießen, war in dem Moment vertan, in dem das Monster zu sprechen begonnen hatte. Jetzt konnte er sich den Lauf auch selbst an den Kopf halten, so sicher war sein Tod.

„Es bringt nichts, zu schweigen." Die Grausamkeit in der Stimme war so schrecklich, dass Liam vor Angst fast zusammenklappte. Er wusste, es war idiotisch, weiter wie angefroren dazustehen, aber er konnte seine Beine nicht mehr bewegen. Eine Kralle, die sich anfühlte, als wäre sie aus spitzem, gefrorenen Stahl, kratzte über die weiche Haut an seinem Hals, eine weitere über seinen Rücken. Sie durchschnitt seine Haut wie Butter, doch trotz der enormen Schmerzen konnte Liam nichts tun, als zu keuchen. Sein kompletter Körper war gelähmt von Kälte und Angst. Warmes Blut tränkte sein Oberteil und das Wesen schnarrte verzückt.

„So weich, so warm.. so ängstlich." Stumm fragte sich Liam, wie lange das Monster wohl noch mit ihm Spielen wollte. Immer wieder stach es zu, nicht zu tief, um ihn zu töten, doch tief genug, um ihn genug zu verletzen, sodass der Schmerz ihn fast wahnsinnig machte.

„So köstlich.." Urplötzlich erwachte Liam aus seiner Starre. Er musste hier weg, und zwar auf der Stelle. Aber wie? Kälte, Schmerz und Angst betäubten ihm die Sinne und seine Beine wurden schwach unter ihm, während sein Oberkörper sich zusammenkrümmte. Noch ein wenig länger und er würde das Bewusstsein verlieren.

Liam entschied im Bruchteil einer Sekunde. Er ließ sich fallen und schrie vor Schmerz, da die Krallen an seinem Körper die Haut nach oben hin aufschlitzten, doch er rollte sich von dem Monster weg. Zum ersten Mal, seitdem er begonnen hatte, sich nachts zum Jagen hinauszuschleichen, sah er eines von ihnen von vorne. Normalerweise erschoss er sie von hinten, zielte zwischen ihre Schulterblätter, wo ihre zerfressenen Herzen schlugen. Doch dieses Mal stand er dem Monster gegenüber. 

Seine grauen Augen starrten angst- und wuterfüllt in so pechschwarze, dass es wirkte, als würde man in die bodenlosen Tiefen eines Brunnens hinabblicken. Die graue Haut des Wesens schälte sich von dem verwesenden Fleisch, Krallen, so lang wie Dolche, spickten die langfingrigen Hände, die fast gänzlich aus schwarzen Knochen bestanden. Den Mund zu einem hämischen Grinsen mit gelben Zähnen verzogen, musterte das Monster Liam ebenso aufmerksam, wie er es ansah. Es hob an, etwas zu sagen, die Mundwinkel gehässig gehoben. Ein lauter Knall, ein Knurren, das Monster war tot. Liam wandte sich ab und würdigte den Haufen grauer Fetzen keines weiteren Blickes. Heute würde er nicht weiter jagen. Er musste heilen, bevor die Stadt wieder zum Leben erwachte und jemand ihn bluten sah.

Mühsam schleppte er sich die Straße entlang zu einer Unterführung. In diesem Zustand würde er es nie schaffen, wieder ins Haus zu klettern. Sein Gefallen an der Angst war noch nie so gering gewesen wie jetzt, da er schwer blutend und halb blind vor Schmerz die Stufen der Unterführung hinab stolperte. Keuchend sackte er dort in einer Nische zusammen und lehnte seinen Kopf an die kühle, mit Graffiti besprühte Wand. Der Dreck am Boden hatte Liam noch nie weniger gekümmert. Von dem Geruch seines eigenen Schweißes und Blutes wurde ihm schlecht und Lichter tanzten vor seinen Augen. Mit all seiner letzten Kraft konzentrierte er sich auf seine Wunden. Sie mussten verheilen, sonst würde er sterben.

Erleichtert spürte er das unverkennbare Ziehen, das er immer verspürte, wenn seine Haut begann, sich über die klaffenden Wunden zu spannen.

„Ich kann dich riechen." Liams Körper erstarrte, der Heilungsprozess brach ab. Der Blutgeruch vermischte sich mit dem Gestank von Moder, den die Monster verteilten. Sie hatten ihn gefunden. Noch waren sie nicht in der Unterführung, er hatte also eine Chance, zu fliehen. Er kämpfte sich auf die Beine und begann ohne Zögern, sich an der Wand wieder an die Oberfläche zu tasten. Er stolperte über die Treppenstufen, aber fiel nicht zu Boden.

„Wo ist er hin?", schallte die Stimme eines Monsters zu Liam nach oben, gefolgt von leisen Krächzern. Dort unten war nicht nur ein Wesen, es waren viele. Zu viele. Kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus, sein Herz raste und er schwankte. Ihm wurde schwarz vor Augen und er musste sich auf den Gehweg erbrechen. Keuchend und hustend fiel er hin und rappelte sich auf, seine Knie knickten weg, aber er musste weiter, konnte nicht hierbleiben, durfte nicht sterben! Nur noch ein paar Hausnummern, dann war er sicher. Jetzt war es egal, ob er gesehen wurde. Er musste seine Haustür erreichen. Er musste nach Hause..

Heißes Blut rann aus Liams Wunden.

Herzklopfen, in seinen Ohren, so laut, dass er nichts anderes mehr hören konnte. Schmerz, furchtbarer Schmerz. So.. müde..

Liam schien der Boden zu entgleiten. Er fiel hart auf das Pflaster und schlug sich die Hände auf. Nur noch zwei Hausnummern. Erneut würgend kroch er weiter, seine Finger krallten sich in die harte Erde zwischen den Steinen. Ein lautes Dröhnen in seinem Kopf irritierte ihn. Und dann noch diese krächzenden Stimmen, so laut, so nah. Was war aus der ruhigen Nacht geworden?

Röchelnd legte er den Kopf auf den Boden. Alles drehte sich und sein Schädel drohte zu zerplatzen. Liam wusste nicht, wie lange er dalag, vor dem eigenen Haus in einer Pfütze seines eigenen Blutes. Vielleicht eine Stunde, vielleicht auch nur eine Minute. Ihm wurde schwarz vor Augen und sein Atem ging flach, wurde mit jedem Mal schwerer.

War das Sterben?

Würde er jetzt für immer gehen und die Stadt den Monstern überlassen?

Hände packten ihn, viele Hände, so zahlreich wie die Gräber auf Willmoore's Friedhof, und sicher gehörten sie den Toten, so wie die Arme, in die er gelegt wurde, die des Todes waren, der ihn, nachdem Liam ihm so oft entkommen war, endlich geholt hatte.  

Das tote LandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt