Immer höher stieg die Sonne über dem Nördlichen Niemandsland und wärmte die Berge mit ihren hellen Strahlen. Und „Pinch" rannte. Sie rannte, als würde ihr Leben davon abhängen. Doch es war nicht ganz so. Es war das Leben eines anderen.
Sie konnte deutlich mehr von ihrem Weg erkennen als beim letzten Mal, als sie hier entlang gekommen war. Taylor hatte sie in ziemlich hohem Tempo durch die Dunkelheit geführt, dennoch wusste sie, dass sie auf dem richtigen Weg war. Das Lager konnte nicht mehr weit entfernt sein. Doch was sollte sie tun, wenn sie dort ankam? Ihre Möglichkeiten waren begrenzt, besonders gegen einen riesenhaften Kerl wie Whitmore. Ihr Betäubungsstrahler steckte im Halfter an ihrem Gürtel. Drei Schüsse waren noch übrig, nachdem sie Sykes mit einem Hagel von Laserstrahlen zur Strecke gebracht hatte. „Pinch" fröstelte, als sie daran dachte. Nicht nur, weil sie in diesem Augenblick vollkommen die Kontrolle über sich verloren hatte, sondern auch, weil Whitmore über drei Schüsse aus dieser Waffe wohl kaum mehr als nur müde lächeln würde.
Der Rest, den sie aufbieten konnte, war kläglich. Sie hatte eines der großen Messer von Sykes mitgenommen und damit das Messer ersetzt, was sie nach der Frau geworfen hatte. Und den Gegenstand aus dem Rucksack hatte sie mittlerweile ausgepackt und vorbereitet – unter den Augen der Kinder, die dabei erstaunt und etwas besorgt zugesehen hatten. Sie konnten sich kaum vorstellen, was „Pinch" damit bezweckte. Aber das war alles, was sie an Hilfsmitteln gegen Whitmore aufbieten konnte. Es blieben sonst nur ihre Schnelligkeit und ihr Verstand.
Bald war sie in Sichtweite der bewaldeten Hügel, hinter denen das Lager der Verbrecher lag. Sie konnte bereits die Büsche sehen, hinter denen sich Taylor in der Nacht versteckt hatte. Eine dünne Rauchfahne stieg dahinter auf, die Überreste des Lagerfeuers. Und sie hörte laute Schmerzensschreie. Es war eine jugendliche Stimme, die dort schrie – sie gehörte garantiert nicht Whitmore!
„Pinch" war am Ende – der Dauerlauf mit der schweren Ausrüstung hatte sie erschöpft, und sie hatte einen langen Weg hinter sich. Doch als sie die Schreie hörte, rannte sie noch schneller und zog ihre Waffe. Egal, was hinter diesen Büschen auf sie wartete, drei Schüsse waren immer noch besser als nichts.
Entschlossen näherte sie sich der Stelle, von der sie die Schreie hörte, und hatte bald die Büsche erreicht. Direkt daneben war ein großer Felsbrocken, der ihr einigermaßen Deckung gab – es war der selbe Felsbrocken, hinter dem sie sich auch in der Nacht hatte verstecken wollen. Sie erreichte ihn mit gezogener Waffe, kauerte sich dahinter und rang erschöpft nach Atem. Ihr Herz wummerte wie verrückt, die Geräusche um sie herum wurden durch das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren übertönt. Sie brauchte einen Augenblick, um ihre Kräfte zu sammeln und sich auf das gefasst zu machen, was auf der anderen Seite des Felsens geschah. Dann hob sie den Kopf aus der Deckung und riskierte einen Blick.
Auf das, was sie dort sah, war sie nicht gefasst. Es war schlimmer als alles, was sie sich hatte vorstellen können.
Whitmore war mit Jesper alleine im Lager, Johnson war nirgends zu sehen. Jesper lag am Boden, das Gesicht blutüberströmt und vor Schmerzen verzerrt, sich mit malträtierten Händen eine Wunde in seiner Seite haltend. Whitmore stand über ihm, schlug auf ihn ein und versetzte ihm gemeine Fußtritte. „Pinch" war entsetzt, und es tat ihr unendlich weh, Jesper so zu sehen. Meine Schuld, dachte sie. Er hat mich laufen lassen. Es ist meine Schuld, dass ihm das nun angetan wird. Sie fühlte erneut die Wut in sich hochkochen, die sie auch bei dem Kampf gegen Sykes verspürt hatte. Es war nicht so, dass sie von Jesper sonderlich angetan war – zumindest hätte sie sich das niemals eingestanden. Aber er hatte sie laufenlassen. Er hatte ihr geholfen. Sie schuldete ihm etwas. Und das, was er gerade durchmachen musste, hatte er nicht verdient. Niemand verdiente so etwas.
Sie richtete den Blick auf Whitmore, und ihr Gesicht wurde finster. Der große ekelhafte Kerl schien es regelrecht zu genießen, seinem eigenen Neffen dies anzutun. Das war es! Die Grenze dessen, was „Pinch" alles still ertragen konnte, war jetzt überschritten. Die warnende Flüsterstimme in ihrem Hinterkopf erinnerte sie daran, wie sie das auch über Sykes gedacht hatte, kurz bevor sie ausgerastet war. Sie warnte sie, dass sie dieses Gefühl niemals wieder erleben wollte. Aber in diesem Augenblick war sich „Pinch" nicht ganz sicher, ob es nicht doch angebracht war, das noch einmal zu fühlen. Ihr glaubt, ihr kommt damit durch, und niemand unternimmt etwas dagegen? Allein der Gedanke daran, dass es wahr sein konnte – dass Leute wie Whitmore oder Sykes tun konnten, was sie wollten, ohne dass ihnen jemand etwas anhaben konnten – brachte „Pinch" zur Weißglut. Ihr glaubt, ihr kommt ungestraft davon? Nicht dieses Mal!
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Unicorn Riders - Pinch
Science Fiction„Wahrscheinlich besser als Hausarrest..." Das denkt sich die elfjährige Vera Lippson, Tochter eines intergalaktischen Söldners, als sie zur Söldner-Akademie auf dem friedlichen Planeten Geshtachius Prime gebracht wird. Fortan spielt sie in Übungsmi...