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Eine weitere Woche verging. Ich durfte bei Lisa zuhause im Internet nach einem neuen, richtigen Job suchen. Gerne würde ich wieder ins Büro zurück gehen. Ich schrieb ein paar Bewerbungen. Mein Handy war nun ganz aus. Ich bekam es nicht mehr an. Zum Glück hatte ich die wichtigen Nummern bereits rausgeschrieben. Bei Bernd und Bärbel durfte ich telefonieren. Deren Nummer durfte ich für den Notfall im Supermarkt abgeben. Schließlich musste ich für meinen Arbeitgeber erreichbar sein. Und ich durfte sie an meine Schwester geben. Sie war die einzigste Verwandte, die ich noch hatte. In dieser Woche fuhr ich Marie auch das letzte Mal zur Arbeit. Ab Montag durfte sie wieder selbst fahren. "Dann musst du leider wieder ohne Auto klar kommen!" grinste sie mich an. "Ich habe ja das Rad. Kein Probem!" gab ich zurück.

Eines Abends klingelte es an meiner Tür. Bärbel stand da und gab mir das Telefon in die Hand. "Deine Schwester. Und das hier ist für dich." Sie gab mir eine Tafel Schokolade. Ich umarmte sie vor lauter Freude darüber, nahm alles an mich und sprach mit meiner Schwester. Marie wollte, dass ich sie und ihren neuen Freund zur Betriebsfeier fuhr. Die würde am kommenden Freitag stattfinden. Natürlich stimmte ich dem zu. Besser, ich fuhr sie, als dass sie wieder betrunken hinters Steuer ging. "Fährst du eigentlich zu Mama und Papa?" fragte ich ganz leise. Ich wusste, dass Bärbel unten lauschte. "Was soll ich denn da?" antwortete sie mir patzig. "Nichts... ich dachte nur... sie haben doch Todestag..." bei den Worten schluchzte ich. "Nee denk nicht. Warum auch? Die haben eh nix mehr vom Leben, ne?!" Damit legte sie auf. Ich atmete tief durch, wischte meine Augen an meinem Pulli ab und brachte das Telefon wieder runter. Wie weit war es wohl von hier bis zum Friedhof? Könnte ich das mit dem Rad schaffen? Ich stellte mir ihre Gesichter vor. Im Bett liegend legte ich die Arme um mich selbst und stellte mir vor, es wären fremde Arme, die mich trösten würden. Aber leider gab es niemanden in meinem Leben. Weinend wälzte ich mich in den Schlaf.

Am Tag der Betriebsfeier hatte ich die Schicht gegen Samstag früh eingetauscht. Das war zwar auch sportlich, aber eine andere Möglichkeit hatte es nicht gegeben. Ich hoffte einfach, dass es nicht zu spät werden würde. Ich hatte mir eine Taschenlampe ausgeliehen und ein Buch eingepackt. Und eine Waserflasche. So würde ich die Wartezeit überstehen.Ich trug ein hübsches Sommerkleid. Das hatte Lisa aussortiert, weil sie nicht mehr rein passte. Ich hatte mich so sehr über das neue Kleid gefreut, dass ich es gleich anziehen wollte. Bärbel fand es auch schick. Ich lächelte sie glücklich an und drehte mich im Garten vor den beiden im Kreis. Sie freuten sich mit mir über das Geschenk. Und dann stieg ich auf mein Rad und fuhr zu Marie. Ihr Freund war ein kräftiger Typ und richtiger Schmierlappen. Ich ließ sie vor der Halle raus. Dort waren schon viele Menschen, es roch nach Grillfleisch und Feuer. Und es gab Musik. Neugierig spähte ich eine Sekunde auf den Platz vor der Halle. "Na, hau ab. Worauf wartest du denn noch?" Marie kuschte mich mit einer Handbewegung fort. Ich parkte den Wagen etwas weiter weg am Straßenrand. Da es gleich dunkel werden würde, wollte ich lieber nicht ganz so weit weg. Ich hatte schließlich kein Handy und Marie musste mich ja irgendwie finden. Ich hatte sie nach einem alten Handy gefragt. "Ich leih dir doch kein Handy. Machste ja eh nur kaputt!" hatte sie geantwortet. Und so musste ich jetzt hier warten. Sie wusste, dass ich die ganze Zeit im Auto sitzend warten würde. Meine Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie das wüsste. Sie hatte immer Angst um uns gehabt.

Als es dunkel war, sah ich das Feuer der Feier scheinen. Ich mochte Feuerschein. Feuer war warm und hell. Früher hatte ich abends oft Kerzen angemacht, etwas gekocht und auf Marcel gewartet. Irgendwann nachts kam er dann, sagte, das Essen sei furchtbar und ich solle gefälligst schnell die Beine breit machen. Aber die Kerzen mochte ich trotzdem noch. Das Lachen schallte bis zu meinem Auto. Würden sie es merken, wenn ich kurz um die Ecke sehen würde? Oder würden sie am Ende sogar die Polizei rufen? Ich hatte da schließlich nichts verloren! Die Neugier packte mich. Ich stieg aus und schloss den Wagen ab. Es war kühl geworden. Mein Kleid wehte um meine Oberschenkel. Ich fühlte mich darin irgendwie hübsch. Aber das war ich nicht. Das wusste ich natürlich. Aber ich träumte manchmal einfach gerne. Langsam schlich ich um einen LKW herum und linste vorsichtig um die Ecke. In diesem Moment erblickte ich das Feuer und Andreas Sohn mich. "Guck mal Papa, sie ist doch noch gekommen!" rief er aufgeregt. Ich sah mich um. Wen er wohl meinte? Schnell trat ich den Rückzug an. Nicht gesehen werden war meine Devise. Ich rammte jemanden. Eine Frau huschte kichernd an mir vorbei. Ich fand mich an der Brust von Chris wieder. Er sah mich fragend an. "Ich bin schon weg. Ich wollte nicht schauen. Ich bin schon weg" beteuerte ich eilig und rannte in Richtung Auto. Hoffentlich sagte er es nicht Marie. Was er mit dieser Frau gemacht hatte, ahnte ich ja. Wieviele er wohl schon hatte? Ob er gut darin war? Stop! Sowas durfte ich nicht denken. Das stand mir nicht zu. Ich war schlecht darin. Daher hatte ich das Thema schon seit langer Zeit begraben. Ich ließ mich auf den Fahrersitz sinken und atmete aus. Ich hätte niemals schauen dürfen.

GebrochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt