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Am Morgen tat mir die Wange nicht mehr so weh. Irgendetwas kitzelte mich dort. Und irgendwie lag mein Kissen so komisch unter mir. Als ich die Augen öffnete, quietschte ich erschrocken los. Ich lag an Chris gekuschelt. Dieser sah mich besorgt an und seine Finger berührten vorsichtig meine Wange. Das hatte so gekitzelt. Ich erstarrte. Dann würde es halt jetzt passieren. Mein Körper begann unweigerlich  und unkontrolliert zu zittern. "Ich tu dir nichts. Wirklich. Ich fass jemanden wie dich nicht an. Du bist zu schade dafür" sagte er etwas abwesend. "War ich das etwa auch?" Wieder strich er über meine Wange. Ich nickte ganz leicht. "Scheiße man, das tut mir leid. Ich war voll besoffen und wusste nicht wohin, weil... ach ist ja auch egal jetzt. Kann ich das wieder gut machen?" Seine Augen sahen mich an. Er schaute so lieb. Wenn er mich doch nur noch mal in den Arm nehmen würde. Das hatte auf dem Friedhof so gut getan. Ganz vorsichtig lehnte ich meinen Kopf an ihn. Ich schloss meine Augen. Einen kurzen Moment lang fühlte ich Glück. Ich konnte sein Herz schlagen hören. Er hielt ganz still. "Bist du etwa geschlagen worden? Vergewaltigt worden?" Und zack war der Moment vorbei. Ich sprang aus dem Bett und rannte ins Bad. Im Spiegel besah ich mir den roten Fleck. Gut, dass ich diese Woche nicht mehr arbeiten musste. Nunja. Keine Arbeit, kein Geld. "Diesen kurzen Moment muss ich mir merken!" sagte ich leise zu mir selbst. Aus diesem Moment könnte ich die nächsten Wochen Kraft schöpfen. Als ich wieder raus kam, stand Chris halbnackt vor mir. Er hatte nur seine Shorts an. Für einen ganz kurzen Moment kamen in mir anrüchige Gedanken hoch. Er gefiel mir. Aber so jemanden wie mich... Nein. Niemals. Er stand ganz offensichtlich auf richtige Frauen.

Heute sollte es noch mal heiß werden. Nachdem Chris abgedampft war, ohne noch ein Wort zu verlieren, machte ich mich fertig und fuhr zum See. Dort war es schön. Und ruhig. Es gab einen kleinen Steg. Dort setzte ich mich hin und dachte nach. Mein Vater hatte eine Schaukel im Garten aufgestellt. Dort hatte ich oft gesessen. Und meine Mama hat mittags immer zum Essen gerufen. Langsam ließ ich meine überhitzten Füße durch das Wasser gleiten. Es tat gut. Wieder einmal waren es über 30 Grad. Völlig in meine Gedanken versunken, blickte ich auf, als sich jemand neben mich setzte. Drei Kinder stürmten das Wasser. Andreas sah mich an. "Chris hat Scheiße gebaut!" "Ach das? Ist nicht so schlimm." "Was? Das war er?" Oh scheiße. "Was hat er denn gemacht? .... Eigentlich gehts mich auch nichts an."  Er hat durch seine ganze Rumhurerei angeblich eine Frau geschwängert. Dann hat er sich volllaufen lassen und war die Nacht irgendwo. Wahrscheinlich bei der nächsten Frau. Ihm ist der ganz Ruhm zu Kopf gestiegen. Er wird damit nicht fertig." Andreas sah mich völlig fertig an. Warum zum Teufel erzählt er mir das?

"Er war nur bei mir. Er hat mir im Suff Eine verpasst. Mehr nicht." "Zeigst du ihn an?" Ich schüttelte den Kopf. Andreas ging mit hängenden Schultern zu seinen Kindern. Seine Frau saß am Ufer. Sie war hübsch. Und sie sahen glücklich aus. Ich fühlte mich fehl am Platz. Als ich die Beine hochzog, wurde ich an den Schultern runter gedrückt. "Bleib bitte noch sitzen." Die Stimme kannte ich. Verfolgte er mich irgendwie? Chris schüttete mir sein Herz aus. Ich hörte aus Höflichkeit zu. Mehr auch nicht. Gedankenverloren legte ich mir ein nasses Tuch auf die Wange. durch die Wärme wurde sie schon wieder dick. Er sah mich mit schmerzerfülltem Blick an. "Kann ich was für dich tun." Ich schüttelte den Kopf. Dann hatte ich eine Idee. Aber ich kam mir sehr unverfroren dabei vor. "Du hast doch etwas." "Kannst du mich noch einmal in den Arm nehmen?" Die Worte waren mal wieder schneller über die Lippen gekommen, als ich sie denken konnte. Langsam zog er mich in eine Umarmung. Dieses Gefühl der Geborgenheit überkam mich wieder mit voller Wucht. Das hatte ich damals bei meinen Eltern immer gehabt. Der Schmerz brach sich Bahn und ich fing hemmungslos an zu weinen. Chris hielt mich fester. Erst, als ich mich beruhigt hatte, ließ er lockerer. "Was ist eigentlich passiert?" Zögerlich erzählte ich von dem Unfall meiner Eltern auf der Landstraße und das beide sofort tot gewesen seien. Von dem Erbe, welches ich Marie komplett überlassen hatte mit ihrem damaligen Freund, der jetzt das ganze Hab und Gut meiner Eltern besaß. Von Marcel, wie er mich behandelt, geschlagen, vergewaltigt und betrogen hatte. Und von meiner besten Freundin, mit der er mich betrogen hatte und die mein ganzes Geld gestohlen hatte. "Marie ist alles, was ich noch habe an Familie. Und meine Vermieter mögen mich, glaube ich, auch etwas."

"Deshalb die leere Wohnung. Darum kein Geld für ein Bett" folgerte Chris. "Ich habe ja ein Bett." "Ich werde wohl heiraten müssen" sagte er mir dann unverblümt. "Weil eine deiner Affären schwanger ist?" Er nickte. "Meine Mama hat immer gesagt, dass man nur aus Liebe heiraten sollte, wenn es für immer halten soll." "Wirst du auch mal heiraten?" "Nein. Mich will bestimmt niemand. Ich bin nicht so gut wie andere Frauen" sagte ich aus tiefster Überzeugung. Ich stand auf und wollte gehen. Er tat mir nicht gut. Mein Herz hatte sich etwas verguckt. Aber niemals würde er mich auch nur ansehen. "Kannst du tanzen?" "Was?" "Dein Kleid sieht aus, als solltest du damit tanzen. Das hat mein Vater mal zu meiner Mutter gesagt." Ich schüttelte den Kopf. "Noch etwas, was ich nicht kann." Er stand ebenfalls auf und nahm meine Hand. Ich sah an mir herunter. Heute hatte ich wieder das schöne Kleid von Lisa an, indem ich mir immer einbildete, auch hübsch zu sein. Chris zeigte mir die Schritte. Und so tanzte ich das erste Mal in meinem Leben. Es war schön. Wie schweben. Und es war ein Abschied. Nach einigen weiteren Schritten löste ich mich von ihm. "Machs gut, Chris." Es war ein schöner Abschied. Ein schöner Abschied an einem schönen Tag an einem schönen Ort in einem wenigstens schönen Kleid von einem schönen Mann mit unglaublich schönen Augen, die mich traurig ansahen.

Ob ich nach meinem Tod wohl bei meinen Eltern sein würde. Geliebt und nicht mehr alleine?


GebrochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt