5

109 8 0
                                    


Am Dienstag zog ich mir schwarze Sachen an. Dann suchte ich mir mit Bärbel eine schöne Rose aus und schnitt sie ab. Ich wollte auf keinen Fall mehrere Rosen haben. Sie gehörten mir schließlich nicht. Aber eine solche Rose wäre wunderschön für meine Eltern. Tapfer band ich eine Schleife um ihren Stiel und fuhr mit dem Rad zur Werkstatthalle. Ich hoffte, dass Marie nach Feierabend hinfahren würde. Schüchtern wartete ich auf der Straße auf sie. Andreas und Chris saßen mit einer Frau auf den Stühlen vor dem Büro. Sie unterhielten sich und grüßten mich sogar kurz. Als Marie endlich kam, ging ich zu ihr. "Was machst du denn hier? Und was ist das bitte für eine schreckliche Kleidung? Bist du jetzt Grufti oder was?" Sie lachte mich mal wieder aus. "Unsere Eltern? Heute ist ihr Todestag? Ich dachte, du würdest vielleicht hinfahren." "Nee, ich hab keine Zeit. Ich muss mich jetzt auch beeilen. Wir wollen Essen und ins Kino!" Dann rauschte sie davon. Betreten sah ich auf meine Füße. Okay. Also würde ich eine lange Radtour vor mir haben. Anders würde ich da nämlich nicht hinkommen. Ich setzte mich auf mein Rad und fuhr an. "Warte mal kurz!" kam es hinter meinem Rücken. Andreas stand da. "Warte mal, die hat keine Zeit, um am Todestag zum Friedhof zu fahren?" Ich schüttelte abwehrend den Kopf. "Man, so ein Mist. Ich muss mit den Kindern los, sonst würde ich dich fahren. Marie hat erzählt, wie weit das weg ist." Er sah hilfesuchend zu Chris, der auch gekommen war. "Nein, nein, alles gut. Ich mache einfach eine schöne Radtour. Das hätte den beiden gefallen." Ich lächelte tapfer und fuhr wieder an. "Man, bleib stehen! Ich fahr dich!" Chris Stimme war schneidend scharf. "Das Rad kannst du hier lassen. Kommt nicht weg!" sagte Andreas noch und verschwand dann in Richtung Wohnhaus. Unsicher sah ich zu Chris. "Nein, ist wirklich okay. Ich mach das schon." "Garnichts machst du. Deine Schwester ist echt zum Kotzen. Die ist so schräg drauf, das nicht mal ich sie vögeln will." Mit großen Augen sah ich ihn an. Er griff nach meinem Rad. Er nahm die Rose aus dem Korb. "Für deine Eltern?" Ich nickte traurig. "Wenn es mir wieder besser geht, bekommen sie mehr." Tränen standen in meinen Augen. Chris stellte mein Rad weg und gab mir die Rose. Unsere Finger berührten sich kurz. Er stieg in sein Auto. "Wohin?" Ich nannte ihm die Adresse. Er fuhr langsamer, als er es sonst tat.

Auf dem Friedhof legte er seine Hand auf meinen Rücken. Bei der Beerdigung hatte ich alleine am Grab gestanden. Der Grabstein hatte mich einige Monatsgehälter gekostet. Aber er war schön. Er hätte ihnen gefallen. Das Grab war dreckig und die Bepflanzung vertrocknet. Beschämt sah ich zu Chris, der außerordentliches Feingefühl besaß und mit Abstand auf mich wartete. Ich entfernte das trockene Gestrüpp und holte Wasser, mit dem ich den Grabstein abwusch und die Vase füllte. Ich goss auch die Bepflanzung. Dann stellte ich die Rose in die Vase. Leise sprach ich mit meinen Eltern, erklärte Ihnen, warum Marie nicht hier sein konnte und das ich hoffentlich bald mehr Blumen bringen konnte. Ich vermisste sie so sehr. Mir fehlte es, dass mir jemand zuhörte. Aber ich erzählte Ihnen auch von Bärbel und Bernd und wie lieb sie zu mir waren. Und dass mich Chris gefahren hatte. "Ich bin so traurig, dass ihr nicht mehr da seid. Aber ihr wärd bestimmt enttäuscht von mir. Und trotzdem hättet ihr mich liebevoll in den Arm genommen. Eure Liebe fehlt mir so." Ich schluchzte am Boden knieend und dicke Tränen tropften auf die trockene Erde. Ich hatte nicht bemerkt, dass er näher gekommen war. Aber nun legten sich Arme um mich. Jemand drückte mir einen Kuss auf die Haare. Wieder einmal träumte ich bei Tage. Ich musste meine Fantasie unter Kontrolle bekommen. Aber ich genoss dieses Gefühl, als ich mir einbildete, wie mich jemand umarmte. Dann stieg mir wieder dieser Geruch in die Nase. Erschrocken sah ich auf. Mich umarmte tatsächlich jemand.

"Kaffee?" flüsterte er mir zu. Überfordert von dieser unglaublich wohltuenden Geste nickte ich nur. Er half mir auf. "Das ist ein schöner Grabstein. Sie sind bestimmt nicht enttäuscht von dir." Chris legte den Arm um meine Taille, da ich etwas zusammensackte. Er hatte es gehört. Wie peinlich. "Hast du ein Foto von Ihnen?" "Ja, auf dem Handy. Also hatte ich auf dem Handy." "Wo ist es denn?" "Das Handy ist kaputt. Es geht nicht mehr an."  Wieder zurück ging ich geradewegs zu meinem Rad. "Hey. Was ist mit Kaffee?" Achja. Es wäre nach der netten Geste nicht richtig, abzulehnen. So ging ich hinter ihm her. Er machte zwei Kaffee. Im Büro sah alles sehr modern aus. An der Wand hing ein großes Bild von einem Konzert oder so. Als ich es länger ansah, erkannte ich die beiden Geschäftsführer. "Wow" entfuhr es mir, ehe ich es stoppen konnte. Noch ehe er darauf eingehen konnte, stolperte ich hinaus. Und meine Schwester war jetzt Teil von dem Ganzen. Etwas stolz war ich schon auf sie. Ich nippte an dem Kaffee. Der war wirklich lecker. So etwas Gutes hatte ich garnicht verdient und nippte andächtig nochmal an dem Getränk. "Ich hab wirklich noch nie jemanden einen Kaffee so genießen sehen" lächelte er mich an. Mir schoss die Röte ins Gesicht. "Wenn du bei Kaffee schon so abgehst... Lassen wir das. Aber mal im Ernst. Du wirst auch immer rot." "Vielen Dank für den Kaffee und ihre Hilfe. Aber ich muss jetzt wirklich nach Hause." Ich wollte gehen. "Wir waren beim 'Du'" zwinkerte er mir zu. "Außerdem kannst du gerne auch mal in Ruhe austrinken." Beschämt sah ich auf meine Tasse, die noch halb voll war. Angespannt nippte ich erneut. Der Wind trug seinen Geruch wieder zu mir. Unauffällig schnüffelte ich danach. Ich mochte diesen Duft. Sehr sogar. Mehr, als es mir jemals zustehen würde. Jemand kam auf den Hof gefahren. Eine hübsche Frau stieg aus. Sie kam auf uns zu, übersah mich galant und steckte meinem Gegenüber besitzergreifend die Zunge in den Hals. So leise, wie es ging, stand ich auf und brachte meine Tasse in die Teeküche zurück. Als ich wieder rauskam, hatten die beiden bereits die Hände unter den Klamotten des Anderen. Diese Frau war noch ein neues Gesicht. In mich hinein kichernd ging ich zu meinem Fahrrad. Ich blickte noch einmal verstohlen zurück. Unbewusst legte ich meine Finger an meine Lippen. In diesem Moment guckte Chris über den Kopf der Frau hinweg direkt in mein Gesicht. Schnell fuhr ich davon.

GebrochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt