Infinity (Oneshot)

„Charmant."

Mit einem verhalten genervten „Mäuschen?", drang die süßliche Stimme ihrer Mutter durch die Tür des Hotelzimmer.

Monster, Plage, Albtraum ihrer schlaflosen Nächte, Ruin ihres Sommers - Cassandras Auswahl an Antwortmöglichkeiten schien schier unendlich zu sein.
Um des lieben Friedens Willen schnappte sie jedoch lediglich in Richtung der Tür, begleitet von einem gestreckten Mittelfinger, den ihre Mutter leider nicht sehen konnte: „Was?"

„Das sag ich Mom." Mit manch frommem Wunsch sollte man vorsichtig sein. Natürlich kam das reizende Rindvieh Rosalie nämlich genau in dem Moment aus dem Bad, welches sie bereits seit ihrer Ankunft vom Pool blockiert hatte.

Sie hörte ihre Eltern vor der Tür flüstern. Anstelle ihrer Mutter, die anscheinend bereits das Interesse oder die Geduld, wahlweise auch einfach beides verloren hatte, antwortete ihr Vater. „Seid ihr soweit, meine Süßen? Wir wollen hinunter zum Essen." Er war wie immer die Ruhe selbst. Egal bei welchem Konflikt, egal wie hässlich die Stimmung zwischen den Damen der Familie war, er war der ruhende Pol.

„Ich muss noch ins Bad." Während sie mit ihrer Kulturtasche in Richtung des Bads schlurfte, riss Rosalie die Tür zum Flur auf.
„Mein Schatz, du siehst aber toll aus." Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihre Mutter stolz lächelte und ihre kleine Schwester in den Arm nahm. Rosalie sah in dem rosafarbenen Sommerkleid, mit ihren langen Haaren, die zu springenden Korkenzieherlocken aufgedreht waren, natürlich reizend aus. Magenreizend, weil sie einfach jedes Klischee einer Sechzehnjährigen erfüllte, das es jemals gab oder jemals geben würde.

Der Blick ihrer Mutter fiel auf sie. „Wieso bist du nicht fertig, Cassandra?" Auf keinen Fall hatten ihre Eltern einen Liebling, wo kämen sie denn da hin?

Sie hatte den Mund noch nicht zu einer Antwort geöffnet, da fuhr ihre Mutter ihr über eben diesen. „Du wusstest, dass wir um sieben essen. Wenn du nicht fertig bist, musst du eben nachkommen." Noch im Umdrehen setzte sie hinzu: „Oder du lässt es, ich kann auch ohne die Fürstin der Finsternis zu Abend essen." Anscheinend hatte ihre Mutter genug von ihrer miesen Laune. Pech.

Cassandra bog vor dem Bad noch einmal ab und trat mit Schwung die Zimmertür zu. Endlich allein. Mit dem Gedanken an die acht vergangenen Stunden mit ihrer plappernden Schwester und ihrer winzigen Blase am Fensterplatz neben sich, die in Zeitschriften blätterte und sie von Lesen oder Schlafen oder einfach vor sich hin Starren abhielt, den folgenden drei langen - wirklich wirklich langen - Stunden am Pool und der Aussicht auf weitere zwanzig Tage als Teil der Rosalie-Show ließ sie sich seufzend auf das Bett fallen. Ein frustrierter Schrei kam über ihre Lippen, bevor sie sich in die weiche, meerblaue Decke kuschelte.

So hatte sie sich den Sommer nicht vorgestellt. Ganz und garnicht. Ihre Mutter vermutlich auch nicht, hatte sie doch tatsächlich angenommen, dass Cassandra sich über die Möglichkeit einundzwanzig Tage in einem Fünf-Sterne-Hotel zu verbringen freuen würde.
Das Gegenteil war der Fall, sie hatte ein Praktikum in der Pädiatrie dafür ausschlagen müssen, verpasste den Mädelstrip ihrer College -WG nach New York und damit die Chance endlich Jonas wiederzusehen, den heißen Bruder ihrer besten Freundin Becca, der in NY lebte und bei dem die Mädels einige Tage wohnen würden. Stattdessen machte sie Familienurlaub auf einer winzigen griechischen Insel. Schon wieder.

Mit Schwung stand sie von dem verführerisch weichen Bett auf und ging erneut ins Bad. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie am Ende wirklich allein essen müssen und obwohl sie die Stille gerade genoss - allein zu essen, wäre ihr definitiv unangenehm.

Seufzend besah sie sich das Chaos aus Bürsten, Haarpflegeprodukten, Pinseln, Tuben und dem Lockenstab um und im Waschbecken. Es war faszinierend, zu sehen, wieviel Kram Rosalie mit sechzehn Jahren in ihr Gesicht schmierte. Was würde sie tun, wenn sie wirklich mal Falten hätte? Oder Poren? Die Haut ihrer Schwester war so ebenmäßig, dass es schon fast widerlich war.