„Heiß."

91 22 37
                                    

Cassandra saß am Fenster ihres Zimmers und starrte hinauf in die sternenklare Nacht. Die Nächte auf der Insel waren das einzig Schöne, denn der Himmel funkelte und glitzerte ohne Wolken oder Smog, ohne mit den Lichtern der Stadt konkurrieren zu müssen. Der Mond stand groß und rund am Himmel, man sah sogar die Krater auf seiner Oberfläche. Die Nächte hier waren atemberaubend schön. Wenn die Tage ihrer Schwester gehörten und die Sonne ihre Freundin war, dann gehörten die Nächte ihr, Cassandra. Und dann war der Mond ihr Begleiter.
Sie lachte leise über sich selbst.

Ein plötzlicher Grunzlaut Rosalies schreckte sie auf. Wenn ihre Verehrer wüssten, dass die zierliche, liebreizende, zuckersüße Rosalie schnarchte wie eine Mannschaft ausgewachsener Holzfäller mit durch Grippe verstopften Nasen, würden sie vielleicht auch mal links und rechts von ihrer grässlich perfekten goldenen Gestalt schauen.

Sie seufzte und sah wieder in den Himmel hinauf. Leider trat aber ihre schlimmste Befürchtung ein und nachdem Rosalie nun einmal begonnen hatte, hörte sie nicht mehr auf die abstoßendsten und nervtötendsten Geräusche von sich zu geben. Verzweifelt versuchte sie sich zu erinnern, wo sie zuletzt ihre AirPods gesehen hatte. Sie wusste zwar, dass die das Schnarchen nicht vollständig aussperren konnten, aber ein Hörbuch würde ihr helfen sich nicht in Gewalt- und Mordfantasien zu hineinzusteigern, die allesamt damit endeten, dass sie ihre Schwester erstickte. Die AirPods hatte sie zuletzt am Pool bei sich gehabt, als Dean sich vorgestellt hatte und danach... Unsicher, ob sie sie wieder eingepackt hatte, grübelte sie vor sich hin. Prima. Läuft doch mal wieder. Nicht.

Ein weiterer ohrenbetäubender, langgezogener Grunzlaut Rosalies ließ sie ihre Decke schnappen und auf den kleinen Balkon flüchten. Tief durchatmend stellte sie sich an das Geländer und ließ den Blick schweifen. Die Anlage lag dunkel unter ihr, nichts war zu hören, außer dem Rauschen des Meeres. Unterbrochen von Schweinchen Babes Grunzkonkurrenz versteht sich.

Als ihr Blick zum Hoteldach schweifte, sah sie für einen kurzen Augenblick einen Mann dort stehen. War das Dean? Er winkte ihr fröhlich zu und verschwand ebenso plötzlich wie er aufgetaucht war.

Er war gesprungen. War er gesprungen? Wohin war er gesprungen? Scheiße. Sie hatte das doch gesehen oder?

Cassandra lauschte, hörte aber doch nichts anderes, als das Meer und Rosalies Symphony des Grauens.
Nur wenige Herzschläge lang hielt sie es auf dem Balkon aus, dann ging sie ins Zimmer hinein und griff leise nach ihrer Keycard, um sich im nächsten Augenblick aus dem Zimmer zu schleichen. Sie wandte sich in die Richtung des Treppenaufgangs und schlich barfuß über den Teppich. Wenn jemand sie sah, würde sie so tun als würde sie schlafwandeln oder sie würde ihm oder ihr nur ganz verrucht zuzwinkern und einen Finger über ihre Lippen legen, um demjenigen zu bedeuten ihr Geheimnis zu bewahren.

Grinsend lief sie die Treppen hinauf. Sie vermisste die selbstbewusste Universitäts-Cassy, die lachte, flirtete, den Moment genoss, glücklich war zu lernen und weit weg von ihrer Familie zu sein. Leider war sie bei ihrer Familie die todunglückliche Cassandra, die sich immer hinter ihrer sieben Jahre jüngeren Schwester hinten an stellte und ihr zuliebe kleinmachte.

Am letzten Absatz fand sie sich vor einer Tür wieder, die mit einem Keil aufgeklemmt war. Neugierig ging sie hindurch.

„Der Bereich ist für Besucher verboten."

Ihr Herz zerbarst. Die Stimme aus dem Nichts jagte ihr einen so großen Schreck ein, dass sie richtiggehend spürte, wie das lebenswichtige Organ ordentlich aus dem Tritt geriet. Der plötzlich neben ihr erscheinende Körper tat sein Übriges, um das Herzklopfen weiterhin zu einem rasenden Galopp anschwellen zu lassen.

„Cassandra?" Jetzt erkannte sie Deans Stimme und nahm auch endlich ihre Umgebung wahr.
Sie hatte nicht erwartet zu sehen, was sie sah. Das mittlere Dach des Hotels, welches sie zum Teil von ihrem Balkon nur rudimentär hatte sehen können, war eine einzige Baustelle, die ihr bei Tageslicht nicht aufgefallen war. Man hatte begonnen den Boden zu verfliesen, doch lagen überall noch kleine Berge von Sand, die in die Fugen gefegt werden würden. Kleine, einzelne Mangoholz-Terrassen standen ohne Sinn überall verteilt. Große Plastiksäcke mit weißen Polstern standen rechts am Rand.

Das, was ihre Aufmerksamkeit jedoch letztlich  fesselte, war ein Infinity Pool ganz am Rand des Daches. Der Nachthimmel spiegelte sich im  stillen Wasser, dessen Rand letztlich in das dunkle Meerwasser überzugehen schien.

„Wow", hauchte sie.

„Erde an Cassandra?", Dean seufzte und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. „Du versetzt meinem Ego wirklich immer wieder empfindliche Wunden."

Sie riss ihren Blick von den sich im Wasser spiegelnden Sternen los und sah Dean an. Erst jetzt bemerkte sie, dass er lediglich Shorts trug.  Fasziniert beobachtete sie, wie feine Wassertropfen von seiner Haut perlten, aus seinen Haaren auf seine Schultern tropften und von da aus über seine muskulöse Brust liefen. Heiß. So heiß.

„Hey, Dean." Sie grinste. „Ich glaube nicht, dass jemand wie ich deinem Ego empfindlichen Schaden zufügen könnte."

„Nur jemand wie du, könnte das, glaub mir." Sie konnte sich gerade noch zurückhalten das Kompliment zu hinterfragen und zu überlegen, was er wohl beabsichtigte. Stattdessen schaffte sie es sich einfach zu bedanken.

„Was ist das hier?" Die Frage war sicherlich nicht die cleverste, aber sie war ein Anfang. Und sie klang freundlich. Vorsichtig brachte sie zwei Schritte zwischen sich und Dean, der ihr sehr nah gekommen war. So nah, dass der Geruch nach Minze und ... Dean, die klare Abendluft verdrängte und ihr das Denken erschwerte.

„Der Bereich ist noch nicht fertig gestellt wie du siehst, wird aber sicherlich zum Insta-Hotspot, sobald er das einmal ist." Sie glaubte ein wenig Wehmut aus seiner Stimme herauszuhören. Dann schnappte er sich ihre Hand und wollte sie über das Dach ziehen. „Komm, ich zeig dir was."

„Moment ... Vorsicht ... ich... ich hab keine Schuhe an." Er blieb stehen und musterte sie. Während sich ein freches Grinsen auf sein Gesicht stahl, fiel Cassandra auf, dass sie lediglich ihre schwarzen, knappen Pyjama-Shorts und ein passendes, lockeres Top trug - ohne BH.

„Du hast auch sonst nicht viel an", flüsterte er rau. Nicht nur seine Stimme verursachte ihr Gänsehaut, auch der Gedanke nachts auf einer ungesicherten Baustelle herumzulaufen, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Wann hatte sie ihre letzte Tetanus- Impfung bekommen?

Ehe sie sich versah, hatte er sie in seine Arme gehoben. Ihr Körper war der Vorgabe des Seinen einfach gefolgt, sie hatte nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, ihre Arme um seinen Hals zu schlingen, sie hatten es einfach getan. Verräter.

„Wir wollen ja nicht, dass du in einen Nagel oder so hineintrittst." Schmunzelnd sah er auf sie hinab. Mit ihr in seinen Armen bahnte Dean sich einen Weg durch die Baustelle.

„Du bist aber auch barfuß."

„Ich bin ein Mann! Jeder Nagel springt aus Respekt vor mir aus dem Weg."

Vorsichtig lunkerte sie auf den Boden. „Ich seh's nicht."

„Weil sie alle schon weggelaufen sind." Er verdrehte spielerisch genervt die Augen.

Am Rand des Pools grinste er sie böse an. Ehe Cassandra sich versah, ließ er sie in den Pool fallen und sprang selbst mit einem Kopfsprung hinterher.

Infinity (Oneshot)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt